Don’t blame the System

Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich das Vergnügen ein Curriculum zur Systemischen Organisationsberatung mit Christina Grubendorfer zu absolvieren*.  Die dort vermittelten Konzepte und Methoden hatten und haben profunde Auswirkungen darauf, wie ich meine Arbeit als Agile Coach angehe. Als ich Christina davon erzählt habe, meinte sie “Schreib mal drüber!” Und das will ich hiermit tun.

Insbesondere möchte ich darauf eingehen, wie mir systemisches Denken geholfen hat, Themen, die mich selbst betreffen, anders zu bearbeiten, als mir das vorher möglich war. Zu diesem Zweck möchte ich die Entwicklung des Themas nachzeichnen, meinen Denk- und Erkenntnisprozess beschreiben und darauf eingehen, welche systemtheoretischen Denkmodelle und Methoden mir an welcher Stelle wie weitergeholfen haben.

Theorie

Als ich angefangen als Agile Coach in der hier beschriebenen Organisation zu arbeiten, waren die Agile Coaches dort als internes Beratungsteam aufgesetzt und formal an eines der Geschäftsführungsressorts gekoppelt.

Dieses Setup gefiel mir sehr gut und war mit ein Grund, mich für dieses Jobangebot zu entscheiden. Hintergrund dafür war maßgeblich das Buch “Agile Coaching” von Judith Andresen und meine Schlußfolgerungen daraus. Judith geht in dem Buch unter anderem auf die Gefahr der Selbstbeauftragung ein, der interne Agile Coaches unterliegen, wenn sie keinen klaren Auftrag von der Organisation bekommen und das vage “Mach uns agiler” mit ihrer eigenen Interpretation füllen.

Diese Situation war mir unangenehm vertraut. Mir schien die Arbeit in einem internen Beratungsteam ein gutes Modell, um das Problem der Selbstbeauftragung zu vermeiden. Schliesslich müssten die internen Kunden ja mit einem Anliegen zu uns kommen. Auf dieser Grundlage würden wir dann eine Auftragsklärung machen und alles wäre super.

Nebenbei würden wir gleich noch vermeiden, dass eine Abhängigkeit der betreuten Teams vom Agile Coach entsteht, da ja von Anfang an klar wäre, dass die Zusammenarbeit nur auf Zeit ist.

Soweit die Theorie.

Praxis

In der Praxis zeigten sich schnell einige Abweichungen vom theoretischen Modell.

Es mangelte nicht an Anfragen. Aber es zeigte sich, dass die meisten Aufträge von den Agile Coaches formuliert wurden. Auch gab es ein relative kompliziertes, datenbasiertes System zur Priorisierung von Anfragen. Bei detaillierter Betrachtung zeigte sich, dass es praktisch keine objektive Datengrundlage gab und die zugehörigen Exceltabellen auf Annahmen beruhte. Die Tabellen wurden von den Agile Coaches ausgefüllt – weil die Formel zu kompliziert und die Auftraggeber zu beschäftigt waren, um es selbst zu tun.

Ich hatten den Eindruck, dass die ganze Auftragsklärung effektiv nur ein aufwändiger Weg war, zu rechtfertigen, worauf der jeweilige Coach sowieso Lust hatte. Ich werde dieses Muster im weiteren Verlauf “Cherrypicking” nennen.

Daneben entstand bei mir der Eindruck, dass die Anfragen eher den Charakter von Symptombehandlung hatten. Hier und da waren tiefer liegende Ursachen für Probleme erkennbar. Allerdings gab es dafür keine Aufträge. Das ist erst einmal nicht schlimm und die Vermeidung der Selbstbeauftragung in Aktion. So richtig befriedigend war es aber auch nicht.

Dann war da noch ein seltsames Muster zu beobachten: Unsere direkten Kontakte waren in der Regel sehr glücklich mit der Zusammenarbeit. Parallel dazu gab es immer mal wieder nebulöse Kritik aus den höheren Ebenen. Es schien als würde hinter vorgehaltener Hand der Sinn und Zweck von Agile Coaches infrage gestellt. Es passierte nichts. Aber das positive Feedback einerseits und die unterschwellige Kritik andererseits schienen nicht zusammen zu passen.

Erster Akt – Alles durch die agile Brille

Über die verschiedenen Aufträge hinweg wurde von uns Agile Coaches wahrgenommen, dass die meisten Teams permanent an der Grenze der Überlastung waren oder auch mal darüber.

Unsere Hypothesen gingen in die Richtung, dass es – ganz klassisch agil – an Transparenz mangelt und die Entscheidungsträger nicht die notwendigen Daten zur Verfügung haben, um die Überlastung zu sehen und darauf zu reagieren. Also machten wir uns mit Eifer daran, die Organisation davon zu überzeugen, dass es teamübergreifende Aufgabenboards braucht, um die Gesamtlage sichtbar zu machen und den Knoten zu durchbrechen. Passenderweise gab es dafür auch agile Methoden, die wir gerne mal ausprobieren würden.

Die Reaktion auf diesen Vorschlag fiel nicht so aus, wie wir uns das gewünscht hatten. Die Bandbeite reichte von “tolle Idee, keine Zeit” über höfliches Desinteresse bis zu offener Ablehnung á la “Das geht euch nichts an.”

Die vorherrschende Interpretation war, dass wir unser Anliegen nicht gut genug vermittelt hatten. Ich hatte das Gefühl, dass da mehr hinter steckte. Aber noch hatte fehlte mir das Instrumentarium, diesem Gefühl nachzugehen. Die Ausbildung hatte ja auch noch nicht begonnen.

Zweiter Akt  – Worte und Taten

Mit der Zeit gab es immer mehr Anfragen an das Agile Coaches Team. Wir versuchten, irgendwie allen gerecht zu werden. Und gerieten dabei so wie die von uns betreuten Teams immer weiter an die Grenze der Belastbarkeit. Auf der anderen Seite wurde die Neubesetzung von Abgängen aus dem Team eingefroren. Da war er wieder, der Widerspruch zwischen unmittelbarem Feedback und der Wertschätzung, wenn es ans Geld ging.

Meine Erklärung zu der Zeit war, dass wir mit den falschen Leuten reden. Falsch in dem Sinne, dass sie keine Budget-Hoheit besitzen. Als Konsequenz führte ich eine Reihe von Gesprächen mit den Budgetverantwortlichen. Diese Gespräche waren sehr aufschlussreich. Zum ersten Mal wurden Zweifel am Return on Investment der Agile Coaches direkt mir gegenüber geäußert. Ich fragte alle meine Gesprächspartner wie viele Agile Coaches sie in ihrem Bereich denn gerne hätten (und bezahlen würden). Einige Entscheidungsträger wollten dafür kein Budget ausgeben, andere schon.

Am Ende ergab sich eine Sollstärke ungefähr doppelt so hoch wie die aktuelle Teamstärke. Als es dann an die konkrete Planung der Personalbudget ging, blieb davon nichts übrig. Keine einzige zusätzliche Stelle wurde bewilligt.

Es brauchte einige Zeit, bis ich aus der Schmollecke wieder herauskam und wieder konstruktiv mit der Situation umgehen konnte.

Dritter Akt – Lernen durch Schmerz

Der Versuch, zusätzliches Personal zu bekommen, war zunächst gescheitert. In einer Situation zunehmender Überlastung, kam mir der Gedanke, nicht mehr in der Organisation nach Lösungen zu suchen, sondern zu überlegen, was wir Agile Coaches anders machen können.

Zeitlich fiel dieser Moment mit dem Beginn der Ausbildung bei Simon, Weber & Friends zusammen.  Ich sehe da einen Zusammenhang.

Das Ergebnis dieser Überlegung war, dass wir Agile Coaches ja bisher immer versucht hatten, irgendwie allen Anfragen gerecht zu werden. Es war für die Entscheidungsträger total vernünftig, hier kein Geld in zusätzliche Coaches zu investieren, wenn der Laden ja mehr oder weniger läuft. Was wir alles tun könnten, wenn wir nur mehr Leute wären, ist ein schwaches Argument.

Auf Grundlage dieser Einsicht überlegten wir uns, unsere Arbeitsweise zu ändern. Alle potentiellen Auftraggeber wurden gebeten, ihr Anliegen mit Hilfe eines Formulars zu beschreiben. Im Rahmen eines Priorisierungsworkshops  wurden dann alle Anfragen von den Auftraggebern präsentiert und relativ zueinander priorisiert. Ausgehend von dieser Priorisierung wurde dann vom Agile Coach Team gemeinsam (und unter Berücksichtigung der Kapazität) entschieden, welche Aufträge übernommen werden können.

Dieses Verfahren funktionierte erstaunlich gut. Nicht nur, dass wir auf transparente und faire Weise priorisiert hatten, es war uns auch deutlich besser als vorher möglich, unsere eigene Kapazität zu respektieren. Und damit NEIN zu sagen.

Es war uns gelungen, mit einem Muster zu brechen.

Und der Musterbruch zeigte Wirkung. Die Gruppe der Auftraggeber respektierte das Ergebnis auch wenn die Mehrheit dabei leer ausgegangen war. Allerdings waren nicht alle bereit sich damit abzufinden. Mit einem Mal wurde der Schmerz sichtbar. Einige, nicht zum Zug gekommen Auftraggeber fingen an, mit den jeweiligen Entscheidungsträgern zu arbeiten, um Budget für eigene Agile Coaches zu bekommen.

Vierter Akt – Der hässliche Blick in den Spiegel

Die kollaborative Priorisierung zusammen mit der formularbasierten Auftragsklärung führt zu einem sehr viel stimmigeren Arbeiten auf einer sauberen Grundlage. Das Missverhältnis zwischen Wertschätzung im direkten Kontakt und gleichzeitiger Infragestellung bei Budgetfragen bestand fort.

Es kam wieder einmal zu einer Episode unterschwelliger Infragestellung. Nach der ersten Trotzreaktion stellte ich mir wieder einige systemische Fragen:

  • Wozu ist der aktuelle Zustand gut?
  • Was trägt zur Stabilisierung des Zustands bei?
  • Was trage ich dazu bei, dass der Zustand aufrechterhalten wird?
  • Wenn das Problem nicht mehr da wäre, was wäre dann anders?

Mir wurde klar, dass unser Modell als interne Berater dazu geführt hatte, dass wir uns gewissermaßen an den Rand des Spielfelds zurückgezogen hatten. Und gleichzeitig haben wir uns darüber beschwert, dass wir nicht wahrgenommen werden. Wie denn auch, wenn wir nicht dabei sind, wenn es ernst wird?

Und dann wurde es richtig unangenehm. Ich stellte mir die Frage, was ich davon habe. Die erste Antwort war, dass wir durch unsere Positionierung an der Seitenlinie des Spielfelds negative Aspekte von uns weg halten konnten. im Vergleich zu anderen Teams war der Druck geringer und wir konnten erfolgreicher dosieren, wie viel wir uns aufladen. Nennen wir das Muster Insel der Glückseligen.

Die zweite Antwort war das eingangs erwähnte Cherrypicking. Der aktuelle Zustand gab uns die Möglichkeit, Themen aufzunehmen, die wir aus dem einen oder anderen Grund bearbeiten wollten. Das Priorisierungsformat hatte der Möglichkeit des Cherrypicking schon entgegen gewirkt, es aber nicht komplett beseitigt. Eine unmittelbarere Einbindung ins das Geschehen auf dem Spielfeld würde bedeuten, dass wir viel öfter in die Lage kommen, Kompromisse einzugehen oder ganz allgemein Dinge tun zu, die uns quer liegen. Von der Seitenlinie aus war es viel leichter die reine Lehrer der Agilität zu vertreten. Kein Wunder, dass wir das bislang vermeiden hatten!

Die dritte  Antwort war etwas, dass ich Hans Dampf in allen Gassen nennen möchte. Durch das Beratersetup mussten potentielle Auftraggeber zu uns kommen und um Unterstützung bitten. Eine komfortable Machtposition für uns, die es ermöglichte, als weiße Ritter zur Rettung zu eilen und nach getaner Arbeit in den Sonnenuntergang zu reiten. Womöglich war war ein Teil des positiven Feedback “lieb Kind machen”, damit wir wieder zurück kommen irgendwann. Gar kein schöner Gedanke.

Letzter Akt – Wenn Eins und Eins zusammen kommen

Manchmal ist es unheimlich, wie verschiedene Ereignisstränge auf einmal zusammen zu kommen scheinen. Just, als ich mir die unangenehmen Fragen gestellt hatte, berichtete mir einer der leer ausgegangenen Auftraggeber, dass er jetzt endlich Budget für einen Agile Coach bekommen hatte und jetzt einen eigenen Coach für seinen Bereich suchen würde. Wir sprachen darüber, dass dieser Coach dann nicht an der Seitenlinie stehen sollte, sondern mit auf dem Spielfeld.

Und dann kam eine Kollegin nach längerer Abwesenheit zurück und es stellte sich die Frage, wie und wo sie sinnvoll eingesetzt werden könnte.

Auf einmal passte alles zusammen. Innerhalb weniger Tage strickten wir das Rollenkonzept zusammen und setzen alle weiteren Schritte in die Wege.

Im Zuge dieser Veränderung wurden dann die Widerstände sichtbar, welche bislang im Verborgenen den Status Quo aufrecht erhalten hatten. Einerseits gab es Widerstand aus der Organisation, weil das neue Modell ja Agile Coach Kapazität binden würde und andere Auftraggeber keine Aussicht auf Unterstützung mehr hätten – außer sie stellen selbst Budget bereit. Andererseits gab es Widerstand im Team. Der Verlust an Freiheit und die Aussicht, stärker in die Pflicht genommen zu werden, waren nicht sonderlich attraktiv. Auch wenn durch diesen Schritt vielleicht endlich der Wertbeitrag von Agile Coaches gesehen wird, stehen die persönlichen Nachteile doch erst einmal im Vordergrund.

Fazit

Ein weiser Mann hat einmal gesagt: “Don’t blame the system, blame yourself.” Dieser Mann war Jurgen Appelo. Mich hat diese Aussage schon früher sehr beschäftigt.

Eine konkrete Gefahr bei der Anwendung einer systemtheoretischen Perspektive ist, sich die Muster bei den Anderen zu suchen und sich selbst als Opfer der Umstände zu inszenieren. Selbst mit der Kenntnis dieser Gefahr ist es in meiner Erfahrung schwierig, aus dieser Perspektive herauszutreten. Sich selbst als Täter zu sehen, ist unangenehm.

Gleichzeitig kann es ungemein hilfreich sein, wenn es gelingt, den eigenen Anteil an bestehenden Mustern wahrzunehmen. Als Mitarbeiter ist der Einflussbereich begrenzt. Umso wichtiger ist es deshalb, die Hebel zu erkennen, die man hat. Und sich nicht selbst unter Verweis auf das allmächtige System aus der Verantwortung zu entlassen.

Die Konzepte der Systemischen Organisationsberatung bieten die Denkwerkzeuge für solchen einen Reflexionsprozess und ich  erlebe die Kenntnis davon als ungeheure Bereicherung. Vielen Dank Christina!

 

*Die Ausbildung habe ich bei Simon, Weber & Friends gemacht und kann sie sehr empfehlen.