Bestehen Organisationen etwa nicht aus Menschen oder wie soll ich mir das vorstellen?

Hier möchte ich gerne versuchen, die anscheinend wirklich schwer verdauliche Idee zu vermitteln, dass Menschen kein Teil von Organisationen sind, sondern als ihre Umwelt verstanden werden sollten. Und warum das sehr praktisch ist, sich das so vorzustellen.

Organisationen sind wie Magnete

Weit verbreitet ist ja die Vorstellung, dass soziale Systeme, also zum Beispiel Familien, oder in unserem Fall Organisationen, aus Menschen bestehen. Hinter der Aussage steht die Idee, es gäbe ein Ganzes, die Organisation, die man in ihre Teile, also die Menschen, zerlegen könnte. Die Systemtheorie bietet hierauf einen anderen Blick an. Sie versteht soziale Systeme als Kommunikationssysteme und die Menschen, die an dieser Kommunikation teilnehmen, als Umwelten des sozialen Systems, nicht als ihre Teile.

Das Ganze, die Organisation ergibt sich dann aus dem System und seiner Umwelt, als Einheit der Differenz. Das heißt, dass das Ganze noch etwas Drittes ist. Dieser Gedanke steht erstmal ziemlich quer im Stall. Ein gutes Beispiel dafür ist ein Magnet. Er „entsteht“ durch das Zusammenwirken der beiden Pole, ist aber selbst weder der eine noch der andere Pol. Vielen Dank an Klaus Eidenschink für dieses super Beispiel, nachzulesen im Blog „Metatheorie der Veränderung“.

Die systemische Denkfigur „Einheit der Differenz“ besagt, dass sich jeder Begriff aus zwei Polen bildet, Akzeptanz z. B. aus Bejahen und Verneinen, Führung aus Kontrolle und Loslassen. Probiere es selbst mal aus.

Vorteil des Magneten ist, er ist meist sichtbar, man kann ihn in die Hand nehmen. Organisationen lassen sich leider nicht anfassen, Kommunikation lässt sich auch nicht anfassen. Menschen schon. Wie verständlich also anzunehmen, dass Organisationen aus Menschen bestehen oder eben auch aus deren Firmengebäuden, Servern oder Fuhrparks.

Aber zurück zu Kommunikationssystem und Umwelt. So über Organisation nachgedacht, also den Menschen als Umwelt des sozialen Systems zu sehen, macht den Menschen keinesfalls unwichtiger für Organisationen. Es gibt ihm im Drüber-Nachdenken aber einen anderen Platz. Und das bringt viele Vorteile mit sich.

Menschen sind eine relevante Umwelt für die Organisation, auf die sich die Organisation kommunikativ bezieht. Ohne relevante Umwelten gäbe es kein soziales System. Das bedeutet, die Organisation existiert nur, weil sie auch relevante Umwelten, also z. B. Mitarbeiter hat. Menschen sind überlebenswichtig für Organisationen. Ja, auch mit Blick auf künstliche Intelligenz und vollautomatisierte Prozesse. Irgendjemand muss das überwachen, was da passiert.

Blinde Flecken bei der Führung von Organisationen

Immer nur auf die Menschen zu schauen, würde heißen, nur auf die Umwelt der Organisation zu schauen. Dabei verliert man den Blick für die andere Seite, für das Kommunikationssystem. Und man verliert auch den Blick für die Einheit aus beidem, nämlich die Organisation. Zwei blinde Flecken handelt man sich also ein, das hat folgenschwere Konsequenzen für die Führung.

Wer sich das Geschehen in Organisationen hauptsächlich über die beteiligten Menschen erklärt, kommt natürlich auch immer nur auf Führungsideen und Problemlösungen, die sich um die Menschen drehen. Da wird dann einzelnen Personen die Schuld gegeben, es werden Personen ausgetauscht, neue eingestellt, andere entlassen. Oder es werden Personen Entwicklungsanträge gestellt, sie bekommen einen Coach, sollen Trainings besuchen oder sich mal anderweitig gründlich fortbilden, damit sie dann danach nicht mehr so stören oder endlich die Probleme der Organisation lösen können. Das ist ja auch alles trotzdem gut und richtig, auf Personen zu schauen, aber es reicht eben nicht und springt ganz oft zu kurz.

In Organisationen gibt es Personen, keine Menschen

Dem aufmerksamen Leser ist vielleicht aufgefallen, dass ich im letzten Absatz nicht mehr von Menschen, sondern von Personen gesprochen habe. Das habe ich absichtlich gemacht. Da Menschen ja im Kommunikationssystem an sich nicht vorkommen, entstehen in den Kommunikationssystemen aber Abbilder von ihnen. Es sind dann kommunikativ erzeugte Personen.

Das erklärt ganz gut, warum bestimmte Menschen in Organisationen zu Personen werden, die so ganz anders sind als in anderen Zusammenhängen, z. B. wie man sie auf einem Familienfest erleben könnte oder im Urlaub oder bei einer Kneipentour. Das Bild, das sich eine Organisation von einer Person macht, hat nämlich auch eine Art Eigenleben. Es ist selbstverständlich beeinflussbar von dem Menschen, der diese Person bespielt, aber nicht kontrollierbar. Das kann sehr praktisch sein für einen Menschen, wenn er zum Beispiel plötzlich hoch gelobt und befördert wird und sich selbst nur wundert, wie das gelingen konnte, da er seine Arbeitszeit bisher zu einem großen Teil mit dem Erledigen privater Dinge verbrachte. Es kann aber auch genau andersherum sehr frustrierend sein, zum Beispiel wenn niemand die ganze Mühe mitzubekommen scheint, die man sich macht und ständig übersehen wird, wenn Lorbeeren verteilt werden.

Menschen können nicht kontrollieren, was in Organisationen passiert

Diesen Effekt, die Kommunikation zwar beeinflussen, aber nicht kontrollieren zu können, demonstriert eindrücklich ein von Fritz B. Simon erfundenes Zahlenspiel, das auch in seinem Buch „Gemeinsam sind wir blöd“ erklärt wird. Jeder Mitspieler nennt zu Beginn eine dreistellige Zahl. Dann wird reihum ein Ball an diese Zahlenadresse geworfen. Wenn der Werfer die Zahlenadresse richtig gesagt hat, geht es weiter. Wenn nicht, geht der Ball zum Werfer zurück. Es zeigt sich schnell, dass bestimmte Adressen sehr häufig angespielt werden und andere gar nicht ins Spiel kommen. Je häufiger eine Zahl angespielt wird, desto öfter wird sie angespielt usw. Mit der Zeit bildet sich eine Struktur, wer im Spiel ist und wer nicht.

Sind nun die Menschen, die nicht angespielt wurden, „schlechter“ oder „inkompetenter“ als die anderen? Natürlich nicht, sie hatten einfach nur das Pech, nicht angespielt worden zu sein von den anderen. Sie konnten nichts tun, mussten dabei zusehen. Sie haben keinen Anschluss gefunden, sie wurden vergessen. Sind diejenigen die besseren Mitarbeiter, die in einer Organisation am präsentesten sind? Nein, nicht unbedingt, sie hatten nur das Glück häufig „angespielt“ zu werden.

So funktionieren Kommunikationssysteme, sie bilden eine eigene Logik, eine eigene Struktur aus. Sie brauchen Menschen als Mitspieler, aber sie sind nicht determinierbar durch Menschen. Die Menschen sind nicht das Spiel, das ist klar, sie spielen das Spiel. Und genau so wahr ist, dass das Spiel die Menschen bespielt.

Und das Spiel funktioniert nach bestimmten Regeln. Diese Regeln sollten angeschaut und hinterfragt werden. In unserem Zahlenspiel gab es die Regel, dass alle Mitspieler nur am Anfang einmal ihre Zahl nennen sollten, danach nicht mehr. Wenn man diese Regel so ändern würde, dass erlaubt ist, die Zahl nochmal zu nennen, wenn man falsch angespielt wurde, dann hätte das einen großen Einfluss auf den weiteren Spielverlauf. Plötzlich hätten auch diejenigen wieder eine Chance ins Spiel zu kommen, deren Adresse vergessen worden war.

Führung muss auf Spielregeln schauen

Für die Führung von Organisationen heißt das, der Blick müsste sich auf die Spielregeln richten, auf die Kommunikationsstrukturen. Dort ist vielversprechend anzusetzen, wenn sich in der Organisation etwas verändern oder etwas möglich werden soll. Das Praktische ist, durch die Veränderung von Spielregeln lassen sich Hunderte von Menschen beeinflussen. Das ist sehr effizient und reduziert ungemein die Komplexität, die man sich nämlich einhandelt, wenn man auf hundert Menschen einzeln schauen würde, ihre Motive, Fähigkeiten, Eigenschaften.

Organisationen so zu verstehen, dass sie nicht aus Menschen bestehen, sondern aus Kommunikation, für die es Menschen braucht, führt zu völlig anderen Möglichkeiten der Einflussnahme. Es führt auch zu einem respektvolleren Umgang mit den Menschen, denn es wird plötzlich klar, wie ihnen bisher die Verantwortung für etwas zugeschrieben wurde, das sie gar nicht kontrollieren können.

Dieser Blick führt zu ganz anderen Ideen, was es bräuchte, um organisationale Probleme zu lösen. Statt immer nur Personal auszuwechseln oder zu schulen, was natürlich trotzdem manchmal nötig ist, gibt es dann plötzlich noch so viel mehr Möglichkeiten, nur ein paar Beispiele:

  • Meetings einführen oder abschaffen
  • Rollen neu erfinden oder neu zuschneiden
  • Hierarchieebenen rausnehmen oder aufbauen
  • Bereiche zusammenlegen oder trennen
  • Prozesse einführen, verändern oder abschaffen
  • Strategien entwickeln oder überarbeiten
  • Regelungen überdenken, anders regeln

Organisationen sind soziale Systeme, sie bestehen aus Kommunikation. Dafür brauchen sie Menschen, die diese Kommunikation erst möglich machen. Aber sie sind nicht die Menschen, auch die Summe ihrer Menschen und auch nicht mehr als die Summe der Menschen. Sie sind etwas ganz Eigenes, das auch eine ganz eigene Betrachtung verdient. Warum? Weil es praktisch ist.

Vielleicht noch eine kleine Nachbemerkung für die systemtheoretisch versierten Leser*innen: Ich habe nun ganz bewusst immer von Menschen gesprochen, statt von psychischen Systemen. In der Systemtheorie wird aber nochmal unterschieden zwischen psychischen Systemen und dem Organismus. Ich finde, dieser Unterschied bringt aber nochmal zusätzlich Verwirrung rein. Und mir geht es ja darum, Organisationen besser zu verstehen.

Lesetipps
Fritz B. Simon (2013): Gemeinsam sind wir blöd!?: Die Intelligenz von Unternehmen, Managern und Märkten

Blog Metatheorie der Veränderung: https://metatheorie-der-veraenderung.info/kurzknapp/theorie-happen/