In der Begleitung von Teams hin zu agileren Arbeitsweisen begegnet es mir oft im Alltag, dass neben der Unsicherheit, wie organisieren wir jetzt unsere Arbeitsabläufe und Zuständigkeiten, viele Fragen bei Führenden hinsichtlich Ihrer zukünftigen Rolle entstehen: „Was heißt Führen ab sofort? Wie komme ich in einem sich stärker selbstorganisierten Team aus einem „command and control“-Führungsmodus raus, wenn das Management oben klassisch Kontrolle und Entscheidungsmacht von mir erwartet? Wieviel Transparenz und Empowerment kann ich überhaupt geben?
Der zunehmende Umgang mit Paradoxien als Führungsaufgabe wird an dieser Stelle überdeutlich. Denn es gilt organisationale Rahmenbedingungen zu bespielen, die nicht (unmittelbar) zu ändern sind; gleichzeitig gilt es genug Handlungsspielraum innerhalb des festen Rahmens zu schaffen, dass ein Team Selbstorganisation entwickeln kann. Eine hohe Anforderung an Führung! Spontan kommt mir die Assoziation des Minotaurus, der griechischen Mythologie-Figur: obenrum die Gestalt eines imposanten Stieres; unten herum eine menschliche Gestalt. Übertragen auf Führende verstehe ich das Bild derart: Nach oben – in der Linie – müssen sie weiterhin Kontrolle beweisen, d.h. entscheidungs- und auskunftsfähig sein. Nach unten – in Richtung eigener Verantwortungsbereich – müssen sie einen Rahmen samt Transparenz und Empowerment bieten, der das Team in die Eigenverantwortung bringt, es selbst entscheidungsfähig macht und es eigene Routinen und Team-Organisationsformen entwickeln lässt.
Welches „Mehr“ beinhaltet das für Führende? Auf jeden Fall die Fähigkeit der Ambiguität, das gleichzeitige Handling widersprüchlicher Anforderungen an ein und dieselbe Rolle. Das beinhaltet aber nicht nur kognitive „Beidhändigkeit“, sondern vor allem ein Mehr an „emotionaler Agilität“. Mir gefällt diese Wortschöpfung, die mir neulich in einem Fachartikel über den Weg lief. Der Begriff meint das Vermögen von Personen, emotional angemessen und flexibel auf parallele Ereignisse oder rasch wechselnde Situationen zu reagieren.
Wenn wir im Falle des selbstorganisierten Teams im Kontext der klassischen Linienorganisation draufschauen, heißt emotional agil: Zum einen emotionale Stärke zu beweisen und dem Top-Management (neben faktenbasierten KPIs und Co) das Gefühl zu vermitteln, die eigene Einheit bzw. das Team im Griff zu haben und nicht minder entscheidungsfähig zu sein. Zum anderen teamseitig ein Gefühl zu erzeugen, dass man dem Team und seinem Vorgehen vertraut und darauf aufbauend eine Basis für hinreichenden Informationsaustausch und offenes Feedback schafft. Dies macht die Führungskraft wiederum handlungsfähig nach oben. Intrapsychisch sorgt die Fähigkeit emotional flexibel zu agieren für weniger Stresserleben und mehr Resilienz. Denn das emotional angemessene Reagieren auf Situationen wird von Personen mit hoher emotionaler Agilität als weniger stressreich empfunden. Ist das nun gottgegeben oder kann man das lernen?
Kommunikationstechniken können wir in Trainings und Teamworkshops einüben. Wir können lernen, wie wir besser miteinander kommunizieren, wie wir produktives Feedback geben und angemessen Feedback einfordern. Wir können lernen, wann wir was in welcher Form kommunizieren, z.B. welche Meetingroutinen für was geeignet sind. Was ist aber mit dem Umgang mit Emotionen? Können wir das auch lernen, emotional gewandt zu agieren? Meine Erkenntnis in der Begleitung von Führungskräften und Teams in agilen Veränderungsprozessen ist die: nicht zu 100%, aber Schritt für Schritt über Erfahrungslernen. Natürlich gibt es personale Unterschiede: Es gibt Menschen, die es blind verstehen, emotional gewandt und balanciert auf die Bedürfnisse ihrer Vorgesetzten genauso wie auf die ihres Teams einzugehen. Die anderen können zumindest für die überwiegenden Situationen in ihrer Führungsrolle lernen, welches Verhalten als emotional angemessen von den Gegenübern erlebt wird und wie es in den jeweiligen Situationen anzuwenden ist. Der Prozess verläuft erst kognitiv, bevor er dann durch das eigene emotionale Anders-Erleben Resonanz erfährt. Der erste Schritt ist es, in Coachings oder Sparrings mit dem Führenden zu reflektieren, welche Situationen als sozial oder kommunikativ herausfordernd erlebt werden und welche Bedürfnisse bei den anderen Beteiligten aufgrund ihres jeweiligen Agierens bzw. Reagierens vermutlich bestehen. Im zweiten Schritt gilt es, ein als stimmig erlebtes Verhalten einzuüben, welches im dritten Schritt dann in der Praxis erprobt und über Feedbackschleifen und Selbstbeobachtungstechniken ausdifferenziert werden kann.
Die individuelle Arbeit von Führenden an ihrer emotionaler Anpassungsgabe ist das eine, die Einsicht der Notwendigkeit und die Umsetzbarkeit innerhalb des organisationalen Kontexts das andere. Denn hinter dem Konzept der emotionalen Agilität steckt auch ein anderes Verständnis von Führung. Die Führungskraft ist „nicht nur“ Entscheider und Kommunikator von strategischen Ausrichtungen und veränderten Rahmenbedingungen, sondern wird auch als emotional Bewanderter betrachtet. Das kann nicht nur auf dem Level des Individuums bearbeitet werden, sondern verlangt ein Umdenken der Rolle von Führung. Die Gesamtorganisation, angefangen an der Spitze, sollte sich mit der Frage auseinandersetzen: Was brauchen wir von Führung heute? Welche Strukturen und Rahmenbedingungen bedarf es hierfür? Und auch: Welche Personen bzw. Rollen brauchen wir für Führung? Emotionale Agilität kann also nicht als Lernaufgabe an den Einzelnen abgewälzt werden; sie kann nur wirken, wenn sie ins Bewusstsein (in die Kommunikation) der Gesamtorganisation kommt und aktiv bearbeitet wird. In meiner systemisch-geprägten Arbeit geht die individuelle Ebene also nicht ohne die organisationale Ebene – und andersherum.