Wir brauchen eine Feedbackkultur! Wirklich?
4x loben und 1x kritisieren am Tag, gerne auch zwischen Tür und Angel, das war die Faustformel im Jahr 2000, als ich bei einer amerikanischen Bank die Führungsentwicklung verantwortete. Durch diese Formel sollten Mitarbeiter zu Höchstleistungen angetrieben werden.
Klar, Feedback kann ein wichtiges Instrument sein, um Erwartungen präsent zu halten, sie aus der Diffusität herauszuholen, um dann Mitarbeitenden auch die Chance zu geben, sich innerhalb der Strukturen einer Organisation weiterzuentwickeln.
Der Denkfehler rund um die ganze Feedback-Mania ist aber aus meiner Sicht, dass das Verhalten von Mitarbeitenden und Führungskräften auf deren Einstellung, Fähigkeiten, Eigenschaften etc. zurückzuführen sei, doch das ist ein Trugschluss. Denn in Organisationen wird das Verhalten gezeigt, das man für opportun hält, um die Erwartungen zu erfüllen und nicht in Ungnade zu fallen.
Um Feedback als Instrument angemessen einsetzen zu können, braucht es also ein tieferes Verständnis der Funktionsweise von Organisationen.
Man sollte wissen, dass die formalisierten Erwartungen an eine Rolle nur die eine Seite der Medaille sind. Die andere Seite sind die informellen und kulturellen Erwartungen, auf die sich aber offiziell nicht berufen werden kann. Das heißt, formalisierte Feedbackinstrumente sind eigentlich Quatsch, weil sie vorgaukeln, die Welt sei in Ordnung, wenn jemand eine hohe Punktzahl erreicht.
Wenn überhaupt, dann können informelle Erwartungen nur hinter verschlossenen Türen zum Entscheidungskriterium gemacht werden, eine offizielle Äußerung wäre eine Unverschämtheit oder sogar illegal. Vieles könnte und dürfte nicht gesagt werden, wäre aber tatsächlich gemeint, z. B.: „Ich werde Ihnen den Job nicht geben, weil Sie meine Einladung zu einem Abendessen abgelehnt haben.“ „Ich kann Ihnen leider nicht mehr Gehalt zahlen, da Sie eine Frau sind.“ „Ich kann Ihnen die Projektleitung nicht übergeben, weil sie auch schwul sind, so wie ich, wie sähe das dann aus?“ „Ich werde Sie nicht mitnehmen in den Vorstandstermin, weil sie so gut sind, dass sie damit nicht hinterm Berg halten können. Und das sähe dann nicht gut für uns beide aus.“
Ein anderer Punkt ist das stets gefährdete Standing von Personen in Organisationen. Man könnte sagen, ein gutes Standing ergib sich unter anderem aus verlässlichem, konsistentem Verhalten. Und nicht heute hü und morgen hott. Und doch: Inkonsistentes Verhalten ist in Organisationen absolut nicht zu vermeiden. Das hat aber, wie schon erwähnt, nichts mit einer vermeintlichen Charakterschwäche zu tun, sondern mit der Notwendigkeit, die Organisation am Laufen zu halten.
Nehmen wir zum Beispiel eine Führungskraft, die in ihrem Team Abweichungen von den Richtlinien zulässt, zum Beispiel duldet, dass entgegen der Betriebsvereinbarung mehr als zwei Tage Homeoffice gemacht werden darf. Mal angenommen, diese Führungskraft soll nun im 360 Grad Feedback von ihren Mitarbeitenden beurteilt werden im Hinblick auf die Einhaltung von Richtlinien. Schwierig … denn die Mitarbeitenden profitieren ja von der mangelnden Performance ihrer Führungskraft in diesem Punkt. Sollen sie ihr nun schlechte Noten dafür geben?
Dieses kleine Beispiel zeigt, wie absurd Feedback-Instrumente sind.
In der Organisationssoziologie gibt es den Begriff des Taktes. Es bedeutet, jemanden so zu behandeln, wie er oder sie selbst gesehen werden möchte. Wenn ich also einen Vorgesetzten habe, der sich offensichtlich selbst ganz toll findet, dann tue ich gut daran, ihm diese Selbsteinschätzung zu bestätigen, um einen guten Stand bei ihm zu haben. Alles andere würde schlecht für mich ausgehen. Ich muss in Organisationen durch mein eigenes Verhalten dazu beitragen, dass der andere derjenige sein kann, der er sein möchte.
Im Beispiel von eben, wäre es also taktlos, der Führungskraft eine schlechte Note in Compliance zu geben, denn sie selbst sieht sich ja so nicht bzw. man würde ihr damit schaden. Das mag alles seltsam klingen, aber Taktgefühl ermöglicht vor allem das Funktionieren der Organisation. Man zeigt sich eben nicht genervt im Meeting, obwohl man es sinnlos findet, was der Kollege da will.
Wenn Feedbacksysteme nun fordern, immer die Wahrheit zu sagen, dann ist der Takt gefährdet.