Karin Volbracht ist agile Organisationsentwicklerin und Vorsitzende des Vereins next U eV. Zu den aktiven Mitgliedern des Vereins gehören auch Bernd Oestereich und Claudia Schröder, die Autoren der Bücher „Das kollegial geführte Unternehmen“ und „Agile Organisationsentwicklung“. Karin Volbracht hat vor ihrer Selbstständigkeit über 20 Jahre als Journalistin gearbeitet und in vielen Projekten den Wandel in einem Medienunternehmen begleitet. Im Austausch mit LEA Beraterin Leonie von Uthmann geht es an dieser Stelle um das Wesen von kollegial getroffenen Entscheidungen.
Leonie von Uthmann: Unserer system(theoretischen) Logik folgend, müssen Organisationen stetig Entscheidungen treffen, um fortbestehen zu können. Andersherum formuliert: Wenn eine Organisation aufhört zu entscheiden, erfährt sie Stillstand und hört irgendwann auf zu existieren. Das ist ein wesentlicher Kern, wenn wir mit Unternehmen an Entscheidungsprozessen und damit an Führung arbeiten. Inwiefern gilt diese Logik auch für die Veränderungsarbeit hin zu mehr Selbstorganisation?
Karin Volbracht: Die Frage, wie überhaupt Entscheidungen getroffen werden, ist zentral für die Selbstorganisation. Wir sagen: Klarheit darüber, WAS vom WEM entschieden werden kann, ist eine Voraussetzung dafür, dass Selbstorganisation gelingt. Meist haben sich Kunden, die sich für kollegiale Führung und Selbstorganisation interessieren, bereits mit dem Thema beschäftigt. In einem ersten Orientierungs-Workshop zur Auftragsklärung kommt dann neben der Motivation der Auftraggeber*innen und den möglicherweise durch kollegiale Führung zu lösenden Herausforderungen auch gleich das Thema Entscheidungen ins Spiel.
Leonie von Uthmann: In welcher Form geht es denn neben der Auftragsklärung gleich um Entscheidungen?
Karin Volbracht: Theoretisch verstehen Geschäftsführende oder Inhaber*innen unmittelbar, dass die Kollegenschaft für mehr Selbstorganisation einen anderen Entscheidungsrahmen benötigt. Ich erlebe da bei Kund*innen immer ein bestimmtes Wunschbild im Kopf, das sehr motivierend wirkt. Nur die Frage: ‚Wie kann das funktionieren?‘ ist noch nicht beantwortet.
Ich erinnere mich an ein 5-stündiges Orientierungscoaching mit dem Inhaber eines mittelständischen Ingenieurbüros. Er hatte festgestellt, dass gerade junge Ingenieur*innen in seinem Unternehmen dringend mehr direkte Eigenverantwortung in ihren Projekten forderten, damit es an den Baustellen zu weniger Verzögerungen kommt. Er sagte selbst, dass er seine Leute an einer ‚ziemlich kurzen Leine‘ führe. Nur wollte er persönlich weniger operativ unterwegs sein und mehr Zeit zum Segeln haben. Dadurch stand er vor der Frage: Stelle ich einen Geschäftsführer für viele laufende Projektentscheidungen ein – oder noch ein oder zwei Ingenieure?
In dem Coaching hatte er seine Motivation und die von den Kunden und Mitarbeitern getriebenen Anlässe für mehr Selbstorganisation genau identifiziert. Das gab es viele gute Gründe für mehr Selbstorganisation und Eigenverantwortung. Nun ging es im nächsten Schritt darum, einen ersten Blick auf einen möglichen neuen Entscheidungsrahmen für seine Mitarbeiter*innen zu werfen. Wir nennen das ‚Delegationsmatrix‘. Und da war schnell klar, dass ihm zum Beispiel die Freigabe von Entscheidungen über eine Grenze von 10 000 Euro hinweg extrem schwerfallen würde. Er hatte als Gründer und Inhaber ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle. Alles andere hätte ihm schlaflose Nächte bereitet. Er hat dann lieber einen Geschäftsführer eingestellt. Anderen Inhaber*innen oder Geschäftsführer*innen fällt die Entscheidung für mehr Selbstorganisation oder Kollegiale Führung wiederum ganz leicht.
Leonie von Uthmann: Das ist interessant: Wenn sich Geschäftsführer*innen oder Inhaber*innen dann für kollegiale Führung entscheiden: Wie geht es weiter mit den Entscheidungen?
Karin Volbracht: Dann geht es partizipativ weiter. Denn Selbstorganisation kann ja in meinem Verständnis nicht ‚top down‘ verordnet werden. Das ist ein Angebot. Die Kollegenschaft entscheidet idealerweise selbst, ob sie den angebotenen Rahmen und die Freiräume bzw. Verantwortung für individuelle und gemeinsame Entscheidungen annimmt oder nicht. Der Übergang von „vorgesetzter“ Führungskraft zu kollegial geteilter Führungsarbeit ist ein bewusster Kontext-Wechsel.
Leonie von Uthmann: Dieser Übergang kann ja auch ein ziemlich emotionaler und kulturbildender Moment sein. Welche Erfahrung habt ihr da gemacht?
Karin Volbracht: Da fällt mir eine besondere Situation ein: Bei der kollegialen Kreis-Konstituierung eines Teams haben die Mitglieder blitzsauber zuerst den Zweck des Kreises definiert. Dann haben sie die ersten Rollen gewählt. Alles stand fein auf einem Flipchart. Da sagte jemand aus dem Team: „Ich habe jetzt einen Entscheidungsschreck“. Ein anderer sagte: „Nein, du hast jetzt das Entscheidungsrecht.“ Dann sagte eine andere: „Ich habe Entscheidungslust.“ Ich fand das großartig! Damit ließ sich gut weiterarbeiten.
Leonie von Uthmann: Danke, dass Du diese beiden Seiten aufmachst. Denn hier wird das Prinzip „Wer A sagt, muss auch B sagen“, sehr plastisch. Vielmehr gilt es zu verstehen, wenn der Entscheidungsschreck zu groß ist: Was hindert uns, uns dem „Entscheidungsschreck“ zu stellen? Oder um es hypnosystemisch zu sagen: „Wozu nutzt der „Entscheidungsschreck“?
Karin Volbracht: In diesem Fall kam heraus: Die Gruppe hatte eine Sorge, durch kollegiale Entscheidungsprozesse in die Überforderung zu kommen, zu viel Kommunikation machen zu müssen und damit den eigenen Job nicht mehr machen zu können. Es gab auch die Sorge, dass sich durch geteilte Führungsverantwortungen interne Spannungen aufbauen. Es gibt ja in der Selbstorganisation keinen „Vorgesetzten“ mehr, auf den man einfach sauer sein kann. Ein eher selbstorganisiert arbeitendes Team muss auch lernen, Spannungen zu bearbeiten. Ein kleinschrittiges, langsames Vorgehen hilft dabei. Ein Auf-Sicht-fahrendes Erproben mit regelmäßigen Retrospektiven. Der Ansatz der Kollegialen Führung liefert hier ein prozesssicheres Verfahren. Unter anderem auch mit der Konsequenz: Wenn Teams merken, sie haben nicht die Ressourcen oder die Kompetenzen dafür, dann können sie die Verantwortung auch wieder zurückgehen.
Das sind kulturbildende Momente: sowohl das Ergründen, worin denn der „Entscheidungsschreck“ liegt – als auch der Umgang mit dem „Nicht-Ziehen“ von Verantwortung. Kollegen von next U haben eine Situation begleitet, in der eine Abteilung beim Konsent-Verfahren zum Start in die Selbstorganisation schwere Einwände nicht integrieren konnten. Die konnten und wollten zu dem Zeitpunkt und unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht in die Selbstorganisation gehen. Der Geschäftsführer hat sehr umsichtig auf diese Entscheidung der Kollegenschaft reagiert: Ihm war klar, dass auch diese Entscheidung deutlich macht, dass er es mit der Selbstorganisation ernst meint. Er hat nicht top down verordnet, sondern arbeitet weiter an besseren Rahmenbedingungen für diese Abteilung – um später nochmal das Angebot zu formulieren. Auch diese Akzeptanz einer Entscheidung gegen den Wunsch von „Vorgesetzten“ ist ein „kulturbildender Moment“.
Leonie von Uthmann: Wichtig finde ich auch noch einmal auf ein Thema hinzuweisen, was Du weiter oben genannt hast: Vertrauen. Wenn ich an Anfragen zum Thema Selbstorganisation denke, kommt mir das direkt in den Sinn. Wie Du es ja oben auch beschrieben hast, für den Vertrauensaufbau steht ganz am Anfang die intensive Arbeit mit der (Geschäfts-)Führung. Von dort muss die Haltung und die nötigen Skills zur Vertrauensstiftung ins Team kommen: „Hey, wir wissen nicht nur, was wir tun, sondern wir vertrauen Euch.“ Dafür sind unter anderem gut prozessierte Retrospektiven maßgeblich.
Karin Volbracht: Absolut. Erst Vertrauen ermöglicht Eigenverantwortung. Da ist zum einen das Vertrauen in Fähigkeiten, Kompetenzen und Lernbereitschaft. In der kollegialen Führung kommt noch das Vertrauen in bestimmte Prozesse hinzu: Regelmäßige Retrospektiven bieten einen Moment des Innehaltens und der Sicherheit im Prozess. Zum Thema des Entscheidungsschrecks lässt sich zum Beispiel ein paar Wochen später fragen: „Was haben wir beobachten können? Wie haben sich die ersten Schritte des Selbst-Entscheidens angefühlt?“ Wir bilden oft interne Moderator*innen bei unseren Kunden aus, die Retrospektiven und Entscheidungen in den Teams gut moderieren können.
Leonie von Uthmann: Wenn man mit Widersacher*innen der Selbstorganisation spricht, hört man oft den Einwand: „Ja, aber es werden ja dann letztlich doch nur die ausgewählt, die informell die größten Schulterklappen aufhaben.“ Das deckt sich nicht mit meinen Beobachtungen. Vielmehr bietet die kollegiale Führung ein sicheres Geländer für den Prozess der agilen Organisationsentwicklung.
Karin Volbracht: Ein Team oder ein Kreis lernt schnell, den Raum für Eigenverantwortung zu nutzen – und dass es an jedem Einzelnen liegt, sich die Verantwortung zu „ziehen“ – oder eben nicht. Neulich hatte ich die Situation im Übergangskreis einer großen Organisation, wo es um die Nachbesetzung von zwei Vertreter*innen in diesem Übergangskreis ging. (Der Übergangskreis ist dort zentral für die Koordination des Transformationsprozesses zum kollegial geführten Unternehmen zuständig.) In zwei Vorschlags- und Meinungsrunden haben alle Mitglieder jeweils Vorschläge zur Rekrutierung in diesen Kreis gemacht. Schon da tauchten überraschende Namen auf, weil die Gruppe divers besetzt ist. Als es dann um die Frage ging, wer denn die möglichen neuen Mitglieder anspricht und einlädt, haben wir das schnelle Entscheidungsverfahren „Aus der Mitte wählen“ gemacht. Dabei stehen einfach diejenigen auf, die das machen wollen und klären untereinander, wer das dann macht. Die beiden „Chefs“ sind sitzen geblieben. Dann stand die Vertreterin der Mitarbeitervertretung auf. Sie wird jetzt das „Recruting“ für den Übergangskreis entsprechend der gemeinsamen Vorschlagsliste übernehmen. Auch das war ein kulturbildender Moment.
Leonie von Uthmann: Über die beiden ersten Phasen Eures Modells, Entscheidungen neu denken und somit Organisationen / Teams selbstorganisiert(er) zu strukturieren, haben wir viel gesprochen. Wie bringe ich die Führung bzw. die Teams nun vom „Dürfen“ ins „Können“ – in die Befähigung der Selbstorganisation? Ihr sprecht da vom Kontextwechsel von Führungskraft zu geteilter Führungsarbeit. Systemisch gesehen ist das ja die entscheidende Veränderung.
Karin Volbracht: Wir versuchen als Begleiter*innen mit unseren Kund*innen die Brücke zwischen diesen Kontexten vorsichtig und kleinschrittig zu überqueren. Das geht nicht mit einem „Big Bang“. Am Start steht die Erlaubnis, das „Dürfen“. Dann müssen die Menschen „kennen“, worum es geht. Dann müssen sie die Verantwortung auch „wollen“. Die Erlaubnis von Seiten der Führungskraft („Dürfen“) und die Annahme der Erlaubnis durch die betroffenen Mitarbeiter*innen („Wollen“) sind die ersten beiden großen Entscheidungen. Danach schauen unsere Kund*innen genau auf die nächsten Schritte. Das sind neben dem „Kennen“ auch das „Können“ und das „Meistern“ von bestimmten Aufgaben.
Was sich Menschen zutrauen und ob sie in einem kollegial geführten Team gern selbst „in Führung“ gehen, hängt auch von den Persönlichkeiten und anderen Belastungen ab: Es gibt Menschen, die sagen „Lasst mich einfach meinen Job machen. Ich hab genug um die Ohren.“ Und dann gibt es Personen, die große Lust haben, unternehmerisch zu denken, zu gestalten und Rollen zu übernehmen. Kollegiale Führung bietet Raum für beides. Auf dem Weg dahin können Teams auch lernen, mit spannungsreichen Situationen umzugehen. Sie lernen, wie sie im Team effizient und gut zu Entscheidungen kommen – jenseits der üblichen Zustimmungsabfrage, wo die relative oder absolute Mehrheit gewinnt.
Leonie von Uthmann: Das ist auch meine Beobachtung, dass dieser Übergang von „kennen“ zu „können“ – das Umdenken viel leichter fällt als gedacht, weil sie diese Skill-Erweiterung erst einmal aus einem Yes-Set betreiben: „Wir wollen plus wir haben verstanden.“ Und dann haben die Teams das sichere Geländer, wie sie Selbstorganisation lernen: entscheiden, ausprobieren, retrospektieren, neu entscheiden, ausprobieren.
Karin Volbracht: Das Skillset, das Du beschreibst, ist wirklich wichtig. Wenn wir in dieser Sprache bleiben, geht es auch um das „Mindset“ und das „Toolset“. Ein äußeres Arbeitsmittel, um Entscheidungen und Verantwortung deutlich zu machen, ist das Teamboard/Company Board. Ziel ist es, Transparenz und Sichtbarkeit von führungsrelevanten Prozessen zu erzeugen. Teams treffen sich regelmäßig und sammeln am Board (1. Spalte), welche Themen neu sind, und definieren in der 2. Spalte, wer sich des Themas annimmt. Das Team kommt schnell vom „was“ zum „wer“. Teams lernen, schnell zu entscheiden und durch die klaren Verantwortlichkeiten ins Tun zu kommen. Das Teamboard gibt Dir in den nächsten Spalten Transparenz über den Stand von Verantwortung: Wie weit ist ein Thema in Arbeit? Ist es bereits bewertbar? Ist es gut entwickelt genug, um integriert zu werden? Du siehst schon, das Teamboard ist eine Variante des Kanban-Boards.
Es gibt viele andere Werkzeuge. Ich hab ja schon erzählt, dass wir bei unseren Kunden oft interne Moderator*innen und Lernbegleiter*innen ausbilden, damit sie diese Prozesse selbstständig können und meistern. Widerstandsabfragen gehören dazu, Einwand-Integrationen, verschiedene Rollen-Wahlverfahren, die Moderation von Retrospektiven. Die Lernbegleiter*innen haben die Feedback-Kultur im Blick und können in den Teams dazu Impulse und Rückmeldungen geben.
Leonie von Uthmann: Ihr seid ja bei next U als Netzwerk von Berater*innen auch selbstorganisiert. Wie konsequent läuft das da? Was erlebt ihr als Herausforderung?
Karin Volbracht: Oh, es gab und gibt durchaus den einen oder anderen Knoten zu lösen. Ich bin sehr glücklich, dass wir als Netzwerk durch viele eigene Erfahrungen mit Selbstorganisation auch authentisch auftreten können. Eine Herausforderung war zum Beispiel unser internes Provisionssystem. Das haben wir dann über einen „konsultativen Fallentscheid“ gelöst. Wir haben zwei Menschen aus unserer Mitte gewählt, die eine Provisionsregelung erstellt und vorher alle anderen dazu befragt und konsultiert haben. Das Ergebnis war dann kein Vorschlag, den wir noch lange diskutiert haben, sondern die Entscheidung der beiden Kollegen, die für uns alle gilt. Die ganze Debatte im Team wurde damit enorm abgekürzt. Die Regelung trägt bis heute.
Leonie von Uthmann: Dabei habt Ihr als Gruppe die Erfahrung gemacht, wenn wir zwei Personen aus unserer Mitte heraus befähigen, in die Verantwortung für uns als Gruppe zu gehen und einen Prototyp auszuarbeiten, der nach 1 Jahr Testphase Bestand hat, dann schafft das Vertrauen: Vertrauen in die Entscheidungsfähigkeit von uns als Gruppe und Vertrauen in die Kompetenz unserer Mitglieder. Nach dem Motto: „Das ist gut gelaufen; wir können das zusammen meistern.“
Um den Kopfstand zu proben, wann musstest Du die Erfahrung machen, dass diese kollegialen Entscheidungsverfahren an ihre Grenzen stoßen?
Karin Volbracht: Ich kann mir vorstellen, dass klassische Personalthemen sehr herausfordernd werden können, sobald sie schmerzhaft werden. Wenn ein Team selbst neue Kolleg*innen einstellt, ist das wunderbar. Wenn das dann nicht wie erwartet läuft, kann es sehr schwer werden. Der Einstellungsprozess kann klar über Rollen und Entscheidungswerkzeuge definiert werden. Doch wenn es in letzter Konsequenz an die Trennung von Kolleg*nnen gilt, an das Auflösen von Zugehörigkeit, braucht es schon „Meisterschaft“ und einen hohen Reifegrad in der Kommunikation. Ich kenne Teams, die haben diese Meisterschaft entwickelt. Andere geben die Verantwortung dafür vielleicht wieder an klassische Führungskräfte zurück, wenn es die noch gibt.
Leonie von Uthmann: Danke, liebe Karin für dieses praxisreiche Gespräch. Deine Beispiele zeigen, kollegial-geführte Entscheidungen sind oft hervorragend. Es braucht aber auch Entscheidungen ‚von oben‘, damit Selbstorganisation funktioniert.