„Die Top-Manager, die heute Unternehmen verantworten, habe ich früher allenfalls als Praktikanten eingestellt!“, reflektiert eine erfahrene HR-Managerin im Gespräch über Führung in agilen Zeiten.
Für viele Führungskräfte, die in den letzten 10-15 Jahren in Unternehmen sozialisiert wurden, waren Leistung, Loyalität und Langfristigkeit zentrale Faktoren. Karrieren, bei denen schon im Trainee-Programm die Schwerpunkte auf Kompetenzen und Können des Individuums ausgerichtet waren, wurden die Regel.
Organisationen, in denen die Talentierten und Durchsetzungsstarken schnell Verantwortung übernahmen und es sich die Loyalen mit dem langen Atem und guten Fachwissen im mittleren Management häuslich einrichteten. Kooperation und Zusammenarbeit im Geschäftsfühungsteam bezog sich aufs Fachliche, aufs Schnittstellen-Management und auf das geschickte Aushandeln der Interessen zwischen den Verantwortungsbereichen. Mehr nicht.
Einige der ehemaligen Praktikanten der oben zitierten HR-Managerin hatten dann noch das Zeug zum charismatischen Konzernsteuerer. Helden- und Identifikationsfiguren, die eine Illusion der Steuerbarkeit des Unsteuerbaren erzeugen und Hoffnung wecken, dass jemand die zukunftsfähige und einzig richtige Vision kennt und erfolgreich durchsetzt.
Veränderte Anforderungen an Führung
Und heute? Die Rufe „Hier geht es lang!“ und „Wo ich bin ist vorn!“, werden nun mehr und mehr angezweifelt. Management ist keine Heldenaufgabe für charismatische Einzelkämpfer mit dem richtigen Riecher für die Zukunftsmärkte, sondern Teamsport.
Führung ist eine von Teams wahrnehmbare Rolle, der einstige Chef wird Ermöglicher, Unterstützer und Mediator in Dilemma-Situationen. Doch wie schaffen es Geschäftsführungsteams ihre über Jahrzehnte erworbene Führungs-Sozialisierung zu überwinden? Wie gelingt es, bisheriges zu verlernen und neue Haltungen und Kompetenzen aufzubauen?
Vom Lernen und Verlernen
Diese Fragen stellten sich auch Führungskräfte in einem Veränderungsprojekt, das ich kürzlich begleitet habe. Mehr Selbstorganisation, größere Verantwortungsübernahme bei den Mitarbeitern und die Überzeugung, dass man bei sich selbst anfangen müsse: beim Ermöglichen, Zulassen und Ausprobieren neuer Kooperationsformen.
Die Führungskräfte entwickelten eine Idee: drei Monate wollte man in Selbstbeobachtung erst mal sich selbst auf den Prüfstand stellen: unter dem Motto „Misstraue den Reflexen“, gaben sich die beiden Top-Führungsebenen folgende Aufgabe: „Wie häufig erliege ich in meinem Führungsalltag den alten Reflexen des Schnell-Entscheidens, der Rück-Delegation, der Übersteuerung und der Versuchung heldenhaft alles persönlich zu regeln?
Wo gelingt es mir Ausnahmen zu etablieren? Und welche Reaktionen erhalte ich darauf?“
Im ersten Boxen-Stopp, nach einem Monat, wurde deutlich: Verlernen ist eine Herausforderung! Häufig wurde erst im Nachhinein klar, dass eine Chance zum Ausprobieren der Ausnahmen wieder einmal verpasst wurde. Eine Führungskraft meinte: „Da saß ich dann auf dem Heimweg im Stau, ließ den Tag Revue passieren und mir wurde deutlich, da hast du wieder reflexhaft reagiert, schnell die Entscheidung getroffen, statt sie dem Team zu überlassen, weil es weniger Kraft kostet und wir das ja immer schon so gemacht haben“. Eine andere Erkenntnis: „Statt für die Interessen meines Bereiches zu kämpfen und diese durchzusetzen, eine nützliche Lösung für das Große, Ganze auszuhandeln hat mich viel Geduld gekostet und manchmal auch großes Unverständnis innerhalb des eigenen Führungsteams. Perspektivwechsel ist anstrengend!“
Doch nicht nur das Verlernen und die bewusste Entscheidung für andere Verhaltens- oder Vorgehensweisen, die Selbstorganisation und Selbstverantwortung fördern sind herausfordernd. Innerhalb des dreimonatigen Testlaufs, wurde auch die Identitätsfrage immer lauter gestellt: was sind wir, wofür stehen wir, wenn wir bisherige Rollenmodelle der Führung hinter uns lassen? Das kommentierte eine Führungskraft mit der Frage: „Was soll denn in zwei Jahren für eine Funktionsbezeichnung auf meiner Visitenkarte stehen?“
Die gute Absicht allein reicht nicht
Wir lernen und verlernen lebenslang. Häufig genutzte Routinen sind in schnell reagierenden neuronalen Netzen abgespeichert, ohne viel nachzudenken können wir hierauf zurückgreifen und dieses Wissen und Können einsetzen. Nicht oder wenig genutzte neuronale Netze verlieren ihre Schnelligkeit, sie werden um- und abgebaut und sind relativ langsam. Dies gilt auch für typische Führungssituationen: geübte Routinen, wie z.B. in einer Besprechung schnell für eine Entscheidung sorgen, wenn das Team unentschlossen wirkt oder als erster seine Meinung einbringen und damit die restliche Diskussion steuern – das sind aus Sicht der Neurowissenschaften einfach sehr gut und über lange Zeit etablierte Muster, die festverankert in neuronalen Netzen fast automatisch abgerufen werden können. Neue Verhaltensweisen müssen hingegen erst eingeübt werden. Neue neuronale Netze sind wie kleine Trampelpfade im Vergleich zu den gut ausgebauten sechsspurigen Autobahnen des über viele Jahre eingeübten Führungsverhaltens. Sie brauchen also Übung und vor allen Dingen: Erfolgserlebnisse. Werden diese wahrgenommen und anerkannt, dann unterstützen sie die Verankerung des neuronalen Netzes.
Daher ist die Sicht auf die Ausnahmen, in denen das Neue, Gewünschte gut gelingt genauso wichtig wie das Frühwarnsystem für unerwünschte Automatismen. Die Reflexion „Misstraue des Reflexen“, die die Führungskräfte also in den ersten Monaten sich selbst verschrieben haben, hilft so, von den guten Absichten gezielt zu gelebten Veränderungen zu kommen.