Am 8. und 9. Juni 2018 fand die „Simon, Weber & Friends“-Alumni-Tagung zum Thema „Digitalisierung“ in Berlin statt. Am Vorabend hatten wir im Kreis der Organisatoren die Idee, dass ich zur Eröffnung der Veranstaltung etwas über Digitalisierung im Kontext der Gesellschaft sagen könnte. Ich hatte die Tage zuvor einen Artikel von Dirk Baecker (siehe unten) gelesen und es entstanden dabei Gedanken und Fragen die ich hier gerne teilen möchte. Wer sich lieber meinen Vortrag zur Eröffnung der Veranstaltung ansehen möchte, der findet hier die dazugehörigen 9 Minuten Bild und Ton.
Was steht eigentlich auf der anderen Seite der Digitalisierung und ist deshalb unbedingt mitzudenken, wenn die Digitalisierung als ein eigenständiges Phänomen betrachtet wird? Auf der anderen Seite steht die Gesellschaft. Gleich gefolgt von der Frage: Was bleibt dem Menschen Menschliches, wenn seine Intelligenz, sein Gedächtnis, seine Wahrnehmung, seine Entscheidungen in elektronische Maschinen auswandern? Und wie ist diese selbstreferenzielle Unruhe zu erklären die mit der Digitalisierung einhergeht und allgegenwärtig erscheint? Das Gefühl stets erreichbar sein zu müssen, weil man sonst „etwas“ verpasst, die Social Media Accounts stets nach Likes abzugrasen, Smartphone, Tablet und Laptop sogar im Urlaub dabei zu haben und auf jede Mail sofort zu reagieren?
Um diese Fragen zu beantworten, bietet sich eine Figur von Niklas Luhmann an, nämlich die Gesellschaft im Kontext seines dominanten Verbreitungsmediums zu betrachten. Es lassen sich vier Medienepochen und damit verbundene Gesellschaften ausmachen:
- die tribale Gesellschaft, die sich der Sprache bediente
- die antike Gesellschaft, die die Schrift nutzte
- die moderne Gesellschaft und ihren Buchdruck
- und nun die sogenannte nächste Gesellschaft mit den elektronischen Medien
In seinem Versuch, eine Theorie der Digitalisierung zu entwickeln, setzte Dirk Baecker die Hypothese, dass die Digitalisierung an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine mehr Möglichkeiten zur Kommunikation über elektronische Medien bereitstellt, als je wahrgenommen werden können.¹
Diesen so genannten Überschusssinn – sozusagen eine riesige IST-KANN-Differenz (im Unterschied zu einem IST-SOLL)– kann unsere Gesellschaft trotz einer Unmenge neuer Formen von losen sozialen Bindungen weder strukturell noch kulturell verarbeiten.
Hierhin liegt ein erster Erklärungsansatz für die allgemein spürbare Überforderung, die im Leben wohl der meisten Menschen im 21. Jahrhundert immer wieder Wellen des Unwohlseins auslöst. Wir werden mit einem schier unfassbaren Kommunikations- und Informationsangebot überfrachtet, es kommt zu dem was Thomas Friedmann als Dislokation bezeichnet². Und wir Menschen reagieren einerseits hörig, in dem wir zwanghaft versuchen der digitalen Überforderung Herr zu werden und jedes Kommunikationsangebot annehmen (Mails, Smartphone, Social Media). Andererseits mündet diese Dislokation auch in einer Ablehnung eines Mediums sowie dem kritischen Blick auf die Bedenken möglicher Auswirkungen. Man nehme nur zunehmende Gegentrends von „Digital Detox“oder „Social Media Fasten“als Beispiel. Diese Phänomene sind wiederum entscheidende Faktoren für die Reflexion nutzbarer Aspekte des Mediums selbst. Medienevolution findet also zunächst in der Ablehnung des Mediums statt.
Was uns zum zweiten Erklärungsansatz für die Überforderung durch die Digitalisierung bringt – der Überlappung von Medienepochen.
Denn in der Geschichte der Menschheit löst eine Medienepoche nicht etwa die vorige ab oder verdrängt sie. Sie legt sich darüber, wird über strukturelle, kulturelle und technologische Innovationen kontextabhängig im gesellschaftlichen Miteinander verankert und integriert – ist damit sinnbildlich für die aktuelle Konstitution des Menschen zu beschreiben.
Und so ist unser gegenwärtiges Sein, ist die Gesellschaft wohl ganz gut wie folgt zu beschreiben:
- Im Tun und in der Praxis mitten drin in der Digitalisierung.
- Im Denken und der Kritik verhaftet in der modernen und teilweise noch antiken Gesellschaft.
- Und im Fühlen nach wie vor tribal.
Was bleibt dem Menschen also Menschliches? Es bleibt einges – die Beobachtung, Begleitung und Reflexion der Verschaltung des Digitalen mit dem Analogen. Und damit die Beobachtung, Begleitung und Reflexion der Komplexität.
² Vgl. Thomas Friedman „Thank You for Being Late”