Tanja Philippi: Leonie, Du bist systemische Organisationsberaterin und Coach. Einer deiner Schwerpunkt liegt auf dem Thema Purpose. Also der Auseinandersetzung mit dem Sinn. Dafür bietest Du einzelnen sowie Teams Formate im Coaching sowie ganze Identitätsprozesse an. Also – lass uns doch einfach gleich mit den ganz großen Fragen anfangen: was bedeutet Sinn eigentlich?
Leonie von Uthmann: Gleich, die bedeutungsschwerste Frage zuerst?! Sinn ist die Antwort auf die Frage des „Warums“: warum stehe ich morgens auf; warum braucht die Welt mich, so wie ich bin mit meinen Eigenschaften, Fertigkeiten, Denkweisen; warum tue ich das, was ich tue usw.. Sinn stiften bedeutet nach meinem Verständnis, einen tiefen inneren Auftrag zu spüren und diesem in unserem Tun und Denken zu folgen. Wie ein Fixstern, der uns anzieht, leitet und damit auch Orientierung gibt. Sich mit dem eigenen Sinn zu beschäftigen funktioniert nicht rein auf rationaler Ebene. Die Sinnfrage stellt sich vor allem auf einer tieferen somato-affektiven Ebene des Körperbewusstseins: tief im Kern des eigenen Seins. Das ist aber nur die eine Hälfte. Sinn wird erst dann gestiftet, wenn wir diesen inneren Auftrag wirklich umsetzen und unser Tun einen Nutzen für die (Um)Welt bringt.
TP: Wie verändert sich die Sinnfrage in Zeiten der aktuellen Corona-Krise? Tut sie das überhaupt?
LvU: Ich habe den Eindruck, sie wird existentieller und rückt mehr in unser Bewusstsein. Die Frage „in welcher Form“ ist vielfältig aus meiner Sicht: Für viele Menschen wird die existentielle Sicherheit zum Überlebenssinn, die unterste Stufe der Maslowschen Bedürfnispyramide. Z.B. Für viele Kreativ schaffende, Künstler*innen, Musiker*innen, Schauspieler*innen, die vor der Krise sich vermutlich ganz oben in der Pyramide auf der Stufe der Selbstverwirklichung/Sinnfrage unterwegs waren.
Andere fangen durch die Zwangsunterbrechung eingeübte Alltags- und Denkmuster in ihrem Beruf und Leben zu hinterfragen: wem oder was sind wir da eigentlich hinterhergejagt? Wofür dieses ständige Hetzen und Reisen? Es geht doch auch anders; warum wieder zurück? Muss ich nicht gerade jetzt, endlich das tun, was ich schon immer tun wollte; es kann so schnell vorbei sein.
Für viele rückt zudem der Familiensinn noch mehr in den Mittelpunkt. Und dann gibt es bestimmt auch viele Menschen, die sich gerade jetzt lieber nicht die Sinnfrage stellen, sondern ihre Kräfte sammeln, um mit Augen zu und durch den riesigen Spagat zwischen extremen beruflichen Druck und Ganztags-Kinderbetreuung zu stemmen. Du siehst, wie immer gibt es alles, nur extremer behaupte ich.
TP: Woran merkst du das?
LvU: Einiges habe ich oben schon beschrieben. Ganz grundsätzlich merke ich es, wie sich die Inhalte und Auseinandersetzung in den Medien verändert hat. Die Warum-Frage wird vermehrt in der öffentlichen Debatte diskutiert. Ich erlebe es natürlich auch in meiner alltäglichen Arbeit als Coach und Transformationsbegleiterin. Beispielsweise erreichen mich aktuell verstärkt Anfragen für Purpose-Coachings. Das ist die oben beschriebene Gruppe, die die Frage nach dem persönlichen Sinn durch die Krise besonders umtreibt. Gleichzeitig sind Themen wie enorme Aufgabenlast, Stress und emotionale Belastung total akut und viele Führende suchen nach einem geschützten Reflexionsraum für den virtuellen Führungsalltag im Home-Office.
Was mein systemisches Herz freut, dass bei einigen Unternehmen die Frage nach dem „Warum“ hinter dem eigenen Business Case mehr ins Bewusstsein tritt. Das verwundert nicht. Denn die Krise führt uns ja unmissverständlich vor Augen: der Sinn reiner Gewinnmaximierung ist fraglich, diplomatisch ausgedrückt. Gleichzeitig erlebe ich rundum das Thema Unternehmenspurpose auch eine Überforderung: „Wie ist das wirtschaftlich umsetzbar, unsere Strukturen, Prozesse, Führungsmodell oder gar unser Geschäftsmodell entlang eines Purpose konsequent auszurichten?“ In der Begleitung von Unternehmen dabei kommt in dieser Auseinandersetzung viel in Bewegung. Alte Denkbarrieren auf Managementebene wie in Teams brechen mehr und mehr auf. Das ist der erste Schritt, um neue Muster zu etablieren: z.B. das eigene Lenken und Wirtschaften vom tieferen Warum aus zu denken und zu gestalten.;)
TP: Du hast gerade von Purpose Coachings gesprochen, da würde ich gern nochmal mehr wissen: Welche Erfahrungen machst du da? Was beschäftigt deine Coachees?
LvU: Für mich gehören die Momente in Purpose-Coachings zu den berührendsten Momenten in meinem Beruf. Plötzlich sitzt Du – stehst Du – einem Coachee mit leuchtenden Augen gegenüber, der seinen Kern erkannt hat und Dir beschreibt, was ihn im tiefsten Inneren wirklich antreibt. Das geht ins Eingemachte. Diese Form des Arbeitens liegt mir: Tief zu tauchen, zu gründeln, um das Fundament – den eigenen Purpose – freizulegen. Wobei nicht ich als Coach die Arbeit mache, sondern die Coachees natürlich selbst. Ich gebe nur das methodische und prozessuale Geländer dafür.
Oft stehen Menschen, die ein Purpose Coaching möchten, an einer Weggabelung. Sie suchen Orientierungshilfe, um eine gute Entscheidung für den nächsten beruflichen Schritt oder einen neuen Lebensabschnitt zu treffen. Oft beschäftigt Menschen aber auch nach individuellen Krisen- oder Krankheitserfahrungen die Sinnfrage. Wieder andere laufen mit dem diffusen Wissen durch ihr Leben, dass sie bisher keine klare Richtung verfolgt haben. Sie haben oft den Wunsch nach mehr Klarheit ihrer Ausrichtung.
TP: Das sind ja sehr wesentliche Themen! Wie näherst du dich mit dem Coachee dann diesen Themen? Welche Fragen stellst du?
LvU: Wie vor jedem Prozess findet eine Auftragsklärung statt. Hilfreiche Fragen, ob ein Purpose-Coaching das richtige Format ist, sind anlassbezogene sowie zukunftsgerichtete Fragen und wie immer systemisch-zirkuläre Fragen: wie z.B. Können Sie sich an die Situation erinnern, wo Sie den Entschluss fürs Coaching gefällt haben; was war da? Wie wichtig ist Sinn für Ihr Leben? Was würden Sie ab morgen anders machen, hätten Sie bereits Ihren Purpose formuliert?
TP: … und welche Antworten bekommst du da?
LvU: Oft zeigt sich schon an der Art und Weise, wie potenzielle Coachees auf das Thema „Sinn“ anspringen, dass ein Purpose Coaching das richtige Format ist. Dann merkst Du, wie sich zB. die Gesichtszüge gegenüber entspannen oder ein Lächeln übers Gesicht huscht. Inhaltlich läuten die Purpose-Glocken bei mir, wenn Menschen erzählen, dass sie z.B. an für sich gerne zur Arbeit gehen, Kollegen*innen nett sind und die eigenen Arbeitsergebnisse stimmen, aber in den kleinen, stillen Momenten sich etwas in ihnen regt, was fragt: „Ist es das? War es das?“ Nicht-bewusst wissen sie häufig längst, bevor sie die „Sinnfrage“ überhaupt formulieren können, dass ihr „Warum“ unklar ist. Längerfristig kann sich das „offene Warum“ auch auf das „Wie“ und „Was“ auswirken. Das äußert sich dann laut: dauernde Über- oder Unterforderung in Arbeitsaufgaben, Motivationsloch, ständige Job- oder Unternehmenswechsel. Es wird also immer wieder versucht, die innere Orientierungslosigkeit im Außen zu lösen. Die Beschäftigung mit dem eigenen Sinn richtet sich hingegen von innen nach außen. Wenn ich mein Warum klar habe, leitet mich das instinktiv zum richtigen Wie oder Was.
TP: Wie komme ich dann dabei zu meinem Sinn? Wie finde ich den?
LvU: Das beruhigende ist: Es ist keine Schatzsuche. Nach dem Motto: „Wenn Du nur gut genug suchst, findest Du Deinen „Sinn“ als Hauptgewinn. Sinn wird nicht aktiv gesucht. Sinn ist längst da. Nur beschäftigen wir uns oft nicht weiter mit dem Warum, weil wir gelernt haben, uns auf das „Was wir tun“ und „Wie wir dabei groß rauskommen“ zu fokussieren. Das sind auch wichtige Strategien. Keine Frage. Das „Wofür“ bleibt aber eben unbeantwortet. Das kann enorme Unzufriedenheit bis hin zu Stillstanderleben auslösen.
Im Purpose Coaching geht es, wie oben bereits erwähnt, im ersten Teil darum, den eigenen Sinn erst einmal zu erkennen und zu formulieren. Ich finde dafür das Werk eines Bildhauers passend: Das Material und das Bildnis sind schon da, damit aber eine Statue ihr Antlitz erhält, muss der Stein in die richtige Form geklopft werden. Im zweiten Teil wird vom Sinn ausgehend herausgearbeitet, wie ein*e Coachee diesen umsetzt. Wir entwickeln also gemeinsam kleine Prototypen, die der*die Coachee über den Prozess hinaus ausprobiert, weiterentwickelt und dabei in Rückkopplung auch wieder seinen Purpose evolutionär verdichtet. Der Effectuation-Ansatz bildet hierfür den methodischen Unterbau. Wie im Design Thinking, geht es darum, schnell ins Tun zu kommen. Mögliche Aufgaben oder Einsatzbereiche sollen in „Minimum Viable Products“ vertestet werden, um unmittelbar ins Sinnerleben zu kommen. Das erzeugt eine erhebliche Schubkraft. Coachees berichten oft, dass dies die entscheidende Schwelle war, um viel größere Vorhaben im Sinne ihres Sinns zu realisieren.
TP: Das klingt nach des Rätsels Lösung: „Lasst uns alle unseren Purpose finden, dann läuft’s steil bergauf“!
LvU: Schön wärs. Purpose Coaching als Weltformel. Die intensive Beschäftigung mit dem Wofür und das bewusste Verstehen des inneren Kompass ermöglicht Menschen tatsächlich, Vorhaben in die Tat umzusetzen, welche früher als Illusion oder Hirngespinste abgetan worden sind. Vorausgesetzt die altbekannten Glaubenssätze und äußeren Störfeuer sind gelöscht. Aber natürlich hat die Purpose-Arbeit Grenzen. Es gibt kein Heilversprechen. Seinen Sinn zu erkennen und konkret in der individuellen Lebensrealität umzusetzen, kann viele innere Barrieren auflösen bis befreiend erlebt werden. Sinn zu stiften, ist aber keine Allzweckwaffe für all unsere Probleme im innen und außen.
TP: Wo liegen also für Dich diese Grenzen?
LvU: Im Heilsversprechen. Coaching ist nach meinem Verständnis ein lösungsorientierter Prozess, in dem zielgerichtet an konkreten Fragestellung gearbeitet wird. Sprich, Coaching kann und will gar nicht heilen oder Weltretter sein. Das gilt auch für die Arbeit an der Sinnfrage im Coaching. Das ist ein äußerst emotional-tiefgehender Prozess, durch den Coachees innerhalb von wenigen Stunden sich selbst extrem nahekommen und aus der tiefen Selbsterkenntnis heraus befähigt werden, ihr (berufliches) Leben gegebenenfalls radikal zu ändern. Das löst auch festgefahrene innere Zustände und mentale Barrieren. Der Purpose-Prozess – wie Coaching allgemein – ist allerdings kein Verfahren, das für sich beansprucht, die Lösung aller Fragen parat zu haben oder gar klinisch-relevante Leiden zu therapieren.
TP: Das finde ich ist eine wichtige Abgrenzung…
LvU….absolut! Als Psychologin – das wirst Du verstehen – gibt es für mich sowieso klare Grenzen zum therapeutischen Bereich. Es gibt Anliegen, die aus meiner Sicht eine klare psychotherapeutische Indikation haben, z.B. wenn jemand mit einer handfesten Depression ins Coaching kommt. Wenn ich das in der Anamnese (Auftragsklärung) erkenne, dann äußere ich das und gebe einen klaren Rahmen, was systemisches Coaching leisten kann und was eben nicht! Nach meinem Verständnis ermöglicht es, eine konkrete Fragestellung bzw. Anliegen tiefgreifend zu bearbeiten, um einen gewünschten Zielzustand zu erreichen. Als Systemiker*innen denken wir dabei immer den größeren Kontext der Coachees für die Lösungsfindung mit. Wir können das irgendwie nicht anders.
TP: Leonie, danke für das purposevolle Gespräch!