Struktur statt Mindset – was ein systemischer Blick auf Organisationen für die HR Arbeit bedeutet

Typisch für die Arbeit im HR Kontext ist eine starke Personenorientierung. Das liegt wohl in der Sache. Das führt allerdings auch dazu, dass in HR Funktionen erdachte Veränderungsansätze (viel zu) häufig an den Personen ansetzen. Da werden große Führungskräfteentwicklungsprogramme aufgesetzt um einen Kulturwandel zu initiieren, da bekommt der Schichtleiter ein Coaching weil es in der Produktion Qualitätsprobleme gibt und da werden die Mitarbeitenden der Poststelle in ein Kommunikationstraining geschickt, weil sich Kunden über deren Unfreundlichkeit beschwert haben. Wir haben es hier mit nicht mehr und nicht weniger als dem größten Denkfehler darüber zu tun, wie Veränderungen in Organisationen gelingen können. Die hier genannten Lösungen für Probleme der Organisation haben alle gemeinsam, dass sie sich das Geschehen über Eigenschaften, Fähigkeiten oder Mind-Sets von Personen erklären, statt – und das wäre der viel größere Hebel der Veränderung – durch organisatorische Strukturen wie Prozesse und Regeln. Das Ergebnis ist die Kompensation von organisationalen Defiziten statt deren Lösung oder grundlegende Bearbeitung.

Wie kann hier ein Musterwechsel gelingen?

Dafür ist es zunächst wichtig, den Blick mal ausnahmsweise nicht nur auf die Personen zu richten, sondern auf die Kommunikationsprozesse in der Organisation. Damit das gelingt ist ein systemtheoretisch fundiertes Verständnis von Organisationen sehr hilfreich. Um sich diesem Verständnis zu nähern, hilft die Metapher des Spiels. Eine Organisation kann wie ein Spiel betrachtet werden, das nach bestimmten Spielregeln gespielt wird. Wer für eine Organisation als Mitspieler tätig wird, akzeptiert, dass er sich an bestimmte Spielregeln als Mitgliedschaftsbedingung halten wird. Die Spielregeln sind sehr stabil, sie ändern sich nicht einfach mal so. Das führt zur Verlässlichkeit im Spiel und alle Mitspieler wissen mehr oder weniger gut, was von ihnen erwartet wird und was sie tun müssen, um im Spiel zu bleiben. Und das ist auch gut so. Denn nur über klare Erwartungsstrukturen kann die Koordination des Verhaltens vieler Akteure in Organisationen gelingen. Spielregeln sind entlastend für alle, da nicht in jeder Situation wieder neu gefragt werden muss, wie zu entscheiden ist. Sie reduzieren Komplexität, absorbieren Unsicherheit und verdichten Kontingenz.

Wie wirken sich nun diese Spielregeln auf das Verhalten der Mitspieler aus?

Sie tun Dinge, die sie in anderen Situationen nicht unbedingt tun würden oder zumindest nicht so tun würden. Sie verhalten sich wie sie sich verhalten, weil es in dieser Organisation von ihnen erwartet wird. Und dabei ist noch wichtig zu verstehen, dass man sich von Organisation zu Organisation ganz anders verhält, weil jede Organisation nämlich ihr eigenes Spiel spielt bzw. ist. So kommt es, dass ein und derselbe Mensch in verschiedenen Organisationen ganz verschiedene Verhaltensweisen zeigen kann. Das ist im privaten Kontext übrigens auch so. Ein Großteil der Besucher eines Fußballstadions kann während des Fußballspiels laut grölen, Schals über dem Kopf schwenken und Bier aus Plastikbechern trinken und am nächsten Tag im feinen Zwirn in der Oper am Champagnerglas nippen und mit gesenkter Stimme eine gepflegte Unterhaltung führen.

Über die Akzeptanz von Spielregeln kommt es zu immer wieder ähnlichen Vorgehensweisen. Verschiedene Akteure tun die Dinge auf ähnliche Weise – „weil man das hier bei uns halt so macht“. So entstehen Muster, die typisch für eine Organisation sind. Und die anders als in anderen Organisationen sind. Spielregeln geben einer Organisation einen ganz eigenen Charakter. Sie prägen eine Vielzahl von Entscheidungen und werden deshalb im Fachjargon auch Entscheidungsprämissen genannt. Prämissen deshalb, weil sie ohne Not nicht hinterfragt werden. Die Summe aller Entscheidungsprämissen kann als Struktur der Organisation gesehen werden. Sie sind ein Leitsystem für Entscheidungen. Dieses Leitsystem zu verstehen, bietet den Zugang zur Veränderungsmöglichkeit einer Organisation.

Das bedeutet – und das ist jetzt der eigentliche Punkt – dass wir uns das Geschehen in Organisationen und eben auch das Verhalten der Beteiligten viel stärker über die Akzeptanz von Mitgliedschaftsbedingungen also das Einhalten von Spielregeln erklären sollten, als dies üblicherweise passiert. Der häufigste Bias von Verantwortlichen in Organisationen (und eben vor allem in HR) ist es ja anzunehmen, dass das Geschehen und das Verhalten Einzelner durch deren Charakter und Kompetenzen und eben jetzt ganz beliebt – durch deren Mind-Set determiniert ist.

Aber nun nochmal zurück zum Ausgangspunkt.

Was verändert sich nun in der HR-Arbeit, wenn sich der Blick auf die Strukturen richtet, statt nur auf die Personen und deren vermeintliche Einstellungen, Fähigkeiten und Motivationen?

Eine andere Interventionsebene rückt in den Blick. Und zwar eine, deren Wirksamkeit weitaus größer und die zudem wesentlich ökonomischer ist als Interventionen auf der Ebene des Mind-Set oder Verhalten von Einzelnen. Es ist die Ebene des Zusammenspiels, des Miteinanders, der Muster, der Prozesse, der Kommunikation. Und die darauf aufbauenden Maßnahmen sehen anders aus als die üblicherweise von HR initiierten Maßnahmen. Statt in Coachings, Trainings und Entwicklungsprogrammen auf einzelne Personen zu schauen, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Frage, wo zum Beispiel zu wenig oder zu viel Kommunikation läuft in der Organisation. Und dann wird als Intervention ein Meeting etabliert, das es bisher noch nicht gab oder auch ein Meeting gestrichen, über das sich alle Beteiligten aufregen und als sinnlos erachten. Oder es wird eine neue Rolle kreiert, eine Hierarchieebene weggenommen oder eingezogen. Der Clou ist, diese Maßnahmen müssen auf Dauer gestellt werden. Haben Seminare häufig Einmaligkeitscharakter und verpuffen dadurch auch schnell wieder, findet sich der gewünschte Effekt dann ab sofort in den Strukturen wieder.

Um zum Schluss ganz praktisch zu werden – was heißt das dann für die eingangs genannten Beispiele?

Wie wäre denn eine Kulturveränderung anders anzugehen als durch ein großes Führungskräfteentwicklungsprogramm? Wichtig ist hier zunächst mal genauer zu verstehen, was als Kultur bezeichnet wird, was genau sich verändern soll und wofür – also welche Ziele mit der Veränderung verfolgt werden. Und dann wäre eine wichtige Frage, wie die Beteiligten darauf kommen, dass die Führungskräfte das Problem sind bzw. die Führungskräfte irgendwas anders verstehen oder können müssen, damit sich die Kultur verändert. Das kann nämlich gelingen, muss aber nicht. Die Kultur ist eine ganz besondere Kategorie von Spielregeln. Dabei handelt es sich um die vielen Regeln des Umgangs miteinander einerseits und andererseits um nicht weniger als den Deutungsrahmen für alle Kommunikation in der Organisation. Die Kultur entscheidet darüber, ob die Frage eines Auszubildenden an den Vorstand als interessant, klug, neugierig, frech, mutig oder absolutes No-Go bewertet wird. Wichtig zu wissen für alle, die Kultur gerne verändern möchten: die Kultur ist unentscheidbar. Sie entwickelt sich einfach hinter dem Rücken der Akteure, bleibt zudem meist im Verborgenen und kann schwer benannt werden. Sie ist dennoch entscheidend und lenkt das Verhalten der Organisationsmitglieder mit eiserner Hand. Dabei ist sie mit der Grammatik einer Sprache zu vergleichen, die Kinder einfach lernen, ohne die Regeln benennen zu können. So lernen auch neue Mitarbeiter*innen innerhalb der Probezeit, welche kulturellen Regeln zu befolgen sind und auch, ob das für sie passt. Wer sich mit der Frage der Kultur weitergehend befassen möchte, sei an dieser Stelle sehr gerne auf mein Buch „Einführung in systemische Konzepte der Unternehmenskultur“ verwiesen, erschienen im Carl-Auer Verlag. Kurz gesagt ist es so, dass man die Kultur nur „über Bande“ anspielen kann, indem man formale Strukturen verändert.

Zweites Beispiel waren die Qualitätsprobleme in der Produktion, die über ein Coaching des Schichtleiters verschwinden sollten. Auch hier wäre natürlich erst wieder wichtig, auf der Ebene beobachtbarer Phänomene zu verstehen, was als Qualitätsproblem bezeichnet wird. Und dann wäre die Frage, wie man sich das erklären kann – und zwar anders noch als durch das Unvermögen des Schichtleiters. Es wäre eher interessant zu verstehen, wie genau die Qualitätsprobleme erzeugt werden, im Sinne eines Backrezeptes, 200 g Mehl, 100 g Zucker usw. Wen braucht es dafür und wer muss was in welcher Reihenfolge tun, damit das Muster „Qualitätsproblem“ entsteht? Und dann wäre die Frage, wie das anders organisiert werden könnte.

Drittes Beispiel, die Mitarbeiter*innen der Poststelle, die ein Kommunikationstraining bekommen sollten, weil sich Kunden über deren Unfreundlichkeit beschwert hatten. Wie ist das zu erklären? Auch hier ist detektivisches Gespür gefragt. In diesem Fall war es beim genaueren Hinsehen eine nicht funktionierende Beziehung zwischen dem Postteam und ihrer Teamleitung. Zudem war diese Schwachstelle erst relevant geworden, nachdem das Unternehmen durch eine größere Gruppe übernommen wurde. Das Postteam hatte kein Forum für seine Anliegen (z. B. wie sollte nun die Post in die drei weiteren Standorte gebracht werden, wenn die Hauptadresse aber nach wie vor am alten Standort ist), so dass es seine Themen mit internen Kunden besprach, die dies als unfreundlich bezeichneten. Mit einer recht einfachen Strukturlösung war dieses Problem aus der Welt geschafft, es wurden zwei Meetingformate etabliert. Ein wöchentliches 30 min. Teammeeting innerhalb des Postteams ohne Teamleitung, das zum allgemeinen Meckern diente und ein zweiwöchentliches einstündiges Meeting mit der Teamleitung, in dem auch Verbesserungsvorschläge gemacht werden konnten.

Das soll jetzt alles nicht dazu führen, Maßnahmen auf Einpersonenebene zu verfluchen. Sie können ja ergänzend häufig wichtig und richtig sein. Nützlich wäre es aber sicherlich, den gängigen Automatismus zu unterbrechen und den Strukturblick mindestens mal neben den Personenblick zu stellen.

Dieser Artikel entstand in Vorbereitung auf meinen Vortrag beim XING Puls HR München am 24.11.2020: „Die systemische Sichtweise im HR Kontext“. Eine sehr gelungene Veranstaltung mit vielen weiteren spannenden Impulsen. 

#becomebetter