Unsicherheit als neue Entscheidungssicherheit

Unsere Sehnsucht nach heldenhafter Führung

In unseren Unternehmen kontrolliert die Sehnsucht nach Sicherheit, Eindeutigkeit, Klarheit, Gewissheit und Überschaubarkeit das Geschehen. Die Maxime lautet Kontrollierbarkeit. Und dadurch ist dann auch gleich klar, was man als Unternehmer, als Top-Manager vorzugeben hat: Die Lage im Griff zu haben.

Die Sicherheit wird dann für alle hergestellt durch kühne Sprüche, klare Statements, Überzeugungen, voller Inbrunst vorgetragen selbstverständlich, und ausführliche Präsentationen mit vermeintlichen Beweislagen. Den richtigen Riecher gehabt zu haben, es gewusst zu haben, das sind immer noch wahre Auszeichnungen für erfolgreiche Manager.

Doch dieses Verhalten war von Anfang an ein Irrtum. Helden sind nicht diejenigen, die es gewusst haben. Helden sind diejenigen, die ihrer größten Angst begegnet sind, darin umgekommen und wieder auferstanden sind. Auch als Führungskräfte, gerade auch als Unternehmer müssen wir uns dieser Angst stellen.

Für welche Zukunft hat sich Dein Unternehmen entschieden?

Seltsame Frage? Kann man sich für eine Zukunft entscheiden? Als ob man die Zukunft vorhersagen könnte … Kann man eben nicht. Das ist der Kern des unternehmerischen Risikos. Und doch wird so getan, als könne man es. Das ist dann das falsch verstandene Heldentum. Gleichzeitig müssen Unternehmen Entscheidungen treffen, denn sonst können sie nicht handeln. Sie müssen irgendwas entscheiden, sonst geht es nicht weiter. Entscheidungen sind der Motor eines jeden Unternehmens.

Was ist aktuell in unseren Unternehmen zu beobachten? Es herrscht entweder hektische Betriebsamkeit oder Schockstarre als Konsequenz daraus, die Zukunft nicht entscheiden zu können. Es wird in Unternehmen, nicht nur jetzt viel Zeit und Energie darauf verwendet zu erörtern, wie die Zukunft wird. Und wer mit seiner Haltung, seinen Aussagen, seinen Berechnungen, seiner Argumentation Recht hat. Es lebe die Trivialität.

Warum kämpfen wir miteinander um die Wahrheit?

Wir nutzen Landkarten (Theorien, Modelle, Annahmen, Überzeugungen etc.), um uns im Land des Lebens zurecht zu finden. Wir verstehen aber oft nicht, dass die Landkarte nicht die Landschaft ist. Wir verwechseln Landkarte und Landschaft. Bei Speisekarten würde uns das ggf. schneller auffallen, spätestens wenn wir reinbeißen. Wir kämpfen um die Wahrheit, Erheben Anspruch auf sie. Doch: Die Nützlichkeit von Landkarten ist die Prämisse und nicht die Frage, ob die Landkarte 1:1 die Wirklichkeit abbildet. Da müsste die Landkarte auch ziemlich groß sein und wir könnten die Landschaft vor lauter Landkarte nicht mehr sehen.

Die Weisheit der Ungewissheit entdecken

Also halten wir fest: Die Zukunft ist nicht vorherzusehen. Sie ist auch nicht zu berechnen. Stattdessen haben wir es in unseren Unternehmen, im ganzen Marktgeschehen, mit dem Gegenteil zu tun: Komplexe (das heißt prinzipiell undurchschaubare) Zusammenhänge, Unberechenbares, Dynamik des Lebendigen. Das war schon immer so, es ist nur nicht so aufgefallen, denn es gab zu wenig Kriege und Katastrophen, um dies zu bemerken, zumindest in den letzten 70 Jahren. Es ist deshalb super gelungen, die Illusion der Durchschaubarkeit, der Berechenbarkeit, der Planbarkeit aufrecht zu erhalten. Und an permanentes Wachstum und grenzenlose Ressourcen zu glauben. Und dem Club of Rome hat damals keiner zugehört, denn es passte nicht ins Bild.

Doch die Verneinung der Komplexität ist und kann nur eine Scheinlösung sein. Denn durch die Verneinung, durch die Leugnung, durch die Trivialisierung verschwinden die Widersprüche nicht. Sie verschwinden nur aus dem Sichtfeld. Das ist wie Scheuklappen anzulegen. Die große Frage, die man sich immer stellt. Kann es in unseren Unternehmen weitergehen wie bisher oder müssen wir was anders machen?

Ich kenne die Antwort. Es ist richtig, dass man weitermacht wie gewohnt und zugleich ist es falsch. Es ist richtig, dass man Neuerungen einführt und doch ist es falsch. Es gibt also immer wieder Situationen, in denen sich nicht eindeutig sagen lässt, was richtig ist und was falsch. Klug ist, beides im Blick zu behalten. Statt zu sagen: „Es wird wie A oder wie B“, zu sagen: „ich weiß es nicht“, ganz fest zu sagen: „wir können es nicht wissen“, das wäre angemessenes Führungsverhalten.

Lust auf ein kleines Experiment? Stellen Sie sich bitte mal hin. Ganz aufrecht, ganz stark, voller Sicherheit. Und jetzt sprechen Sie mir nach: „Ich weiß es nicht!“

In dieses Nichtwissen hineinzufahren, das verändert alles.

Und wirkt Wunder. Weil ich es nämlich nicht weiß, fahre ich auf Sicht. Wie bei einer Gletschertour mit plötzlich umbrechender Wetterlage, da renne ich auch nicht drauf los und bleibe aber auch nicht stehen. Sondern: Ich werde aufmerksam!

Nicht lospreschen, sondern achtsam erste Schritte setzen, aufmerksam beobachten, was die Schritte bewirken. Es nicht zu wissen ist nämlich auch gar nicht das Problem. Zu behaupten, man wisse wie die Zukunft wird, ist allerdings fragwürdig. Hierbei kann es sich allenfalls um Glauben, Liebe oder Hoffnung handeln.

Falsche Gewissheiten haben nichts Positives. Es ist gefährlich, Unauflösbarkeit, Widersprüche zu übersehen bzw. zu unterdrücken. Ungewissheit erzeugt neue Entscheidungssicherheit. Es geht also darum, mit einer absoluten Sicherheit zu sagen, dass man es nicht weiß. Das hat nichts mit Unsicherheit zu tun, sondern nur mit Ungewissheit. Und es könnte auch noch immer ganz anders sein. Es geht deshalb darum, das Unerwartete ins Kalkül zu nehmen. Kreativität entfaltet sich durch: „Ich habe keine Ahnung“. Erfolgt entsteht aus dem Wissen um sein Nicht-Wissen.

Unternehmen werden erfolgreich durch diese Dekaden gehen, die ein starkes Selbst-Bewusstsein haben, die sich also selbst mit sich auskennen, statt den Kopf in den Sand zu stecken, oder heroische Sprüche zu klopfen. Es geht jetzt um das Wissen um die eigenen Kompetenzen, Stärken und Schätze und es geht um ein tiefes Verständnis der Kunden und ihrer Probleme.

Und es braucht Metakompetenzen. Vor allem in der Führung.

  • Surfkompetenz: „Du kannst die Wellen nicht stoppen, aber Du kannst lernen zu surfen.“ Jon Kabat-Zinn
  • Beziehungskompetenz: in Kontakt gehen und Beziehungen gestalten. Nicht nur Innenschau sondern Kontakt nach außen.
  • Komplexitätskompetenz: „Entscheide lieber ungefähr richtig, als genau falsch.“ Johann Wolfgang von Goethe
  • Paradoxiekompetenz: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ Martin Walser
  • Generative Kompetenz: „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“ Franz Kafka
  • Achtsamkeit: „Innehalten – Betrachten. Empfinden – Besinnen. Anders weitermachen.“ Otto Pötter(siehe auch dazu die Studie vom McKinsey Global Institute „Skill Shift. Automation and the Future oft he Workforce)

Was mache ich also jetzt als Unternehmer?

Die Frage sollte jedenfalls nicht sein, welche Aussage wahr ist, sondern welche Aussage Sie zu unternehmerischen Entscheidungen führt, die die Zukunft Ihres Unternehmens sichern. Die Wahrheit und Falschheit von Aussagen ist unentscheidbar. Deshalb müssen wir mit Annahmen arbeiten. Statt mit falschen Gewissheiten.

Widersprüche, Paradoxien, damit haben wir als Unternehmer ständig zu tun. Und sie stellen für uns auch eigentlich kein Problem dar. Warum, dazu komme ich gleich. Was ist gemeint mit Paradoxien? Paradoxien, das sind Handlungsaufforderungen, die sich im Sinne einer zweiwertigen Logik ausschließen: „Gehe nach links. Gehe nach rechts.“ Mal angenommen es geht dabei um Leben oder Tot einer sehr geliebten Person. Da kann man schon verrückt werden …

Paradoxien sind logisch unentscheidbare Dauerkonflikte. Es muss entschieden werden. Nur Unentscheidbares kann und muss entschieden werden, wie Heinz von Foerster so wunderbar sagte. Unentscheidbarkeit ist hier keine Entscheidungsschwäche, sondern unausweichlich. Dieses Entweder-oder gilt aber nur für individuelle Handlungsmöglichkeiten, nicht für das Leben. Und nicht für Organisationen. Das ist die gute Nachricht.

Organisationen sind bereits die Lösung

Organisationsbildung ist die Lösung für das Problem der Paradoxie, das Problem der Unentscheidbarkeit, das Problem des Nichtwissens. Organisationen müssen sich nicht für links oder rechts entscheiden. Denn Organisationen können gleichzeitig nach links und rechts gehen.

Führung heißt nicht, Eindeutigkeit zu schaffen. Klare Bedingungen schaffen zu wollen, führt zu Misserfolg. Gemeinsamer Nenner des Scheiterns: Es wird versucht, aus eindeutigen Werten und Prinzipien (z. B. Tradition) eindeutige Lösungen abzuleiten (z. B. alles bleibt wie es ist). Der 95 jährige Gründer, der die Firma an den noch nicht ganz reifen 70 jährigen Junior übergibt …

Das Genie einer Organisation liegt in der Fähigkeit kontextspezifisch zu entscheiden. Bewahren und Verändern, das sichert die Überlebensfähigkeit. Pendeln zwischen Innovation und Stabilität. Bewusst mit Paradoxien umgehen.

Perfektion und Leben sind nicht miteinander zu vereinbaren. Führung ist nur begrenzt logisch. Und das ist gut so.

Das größte Risiko für die Führung sind einsame hierarchische Entscheidungen. Was Sie tun können, um dem entgegenzuwirken?

  • Erfahrung und Wissen von Mitarbeitenden einbeziehen
  • Widerspruch einfordern
  • Auf perfekte Lösungen verzichten
  • Vieldeutigkeit akzeptieren oder sogar herstellen
  • Sich beraten lassen

Quellen:
Simon, Fritz B. (2013). Wenn rechts links ist und links rechts. Carl-Auer
Schober-Ehmer, H. (2018). Führen in der Ungewissheit. Morawa.