Unternehmenskultur kann man nicht beschließen

LEA spricht mit dem renommierten Organisationsforscher und -Berater Prof. Dr. med. Fritz B. Simon über Unternehmenskultur, ihre Bedeutung für Unternehmenserfolg, Arbeitgeberattraktivität und Markenwert und inwiefern sie gezielt gestaltet werden kann.

Prof. Dr. med. Fritz B. Simon

Studium der Medizin und Soziologie. Organisationsberater, früher Psychiater, Psychoanalytiker, systemischer Familientherapeut.

Gründungsprofessor (Lehrstuhl für Führung und Organisation) des Instituts für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke.

Gründer und Geschäftsführender Gesellschafter des Carl-Auer-Verlags, Heidelberg, und des Organisationsberatungsunternehmens Simon, Weber & Friends GmbH.

Jetziger Arbeitsschwerpunkt: Organisations- und Desorganisationsforschung und -beratung. Autor und Herausgeber diverser Fachartikel und Bücher, die in 14 Sprachen übersetzt sind.


LEA: Herr Prof. Simon, mal angenommen, der Geschäftsführer eines mittelständischen Produktionsunternehmens käme auf Sie zu mit dem folgenden Anliegen: Die Unternehmenskultur müsse sich unbedingt verändern, es habe sich ein respektloses Miteinander etabliert, das er nicht weiter dulden könne. Angestrebt werde ein wertschätzender und vertrauensvoller Umgang miteinander.

Fritz B. Simon: Ich würde ihn wahrscheinlich zunächst fragen, wie seines Erachtens am Ende eines gelungenen Veränderungsprozesses die Kultur aussehen solle? Woran er erkennen würde, dass sie jetzt so ist, wie er sie sich wünscht? Was die ökonomischen Folgen sind? Wer was dann anders machen werde? Was der (materielle oder immaterielle) Preis wäre, der dafür zu zahlen ist?

Dann würde ich ihm die umgekehrte Gute-Fee-Frage stellen: „Angenommen eine gute Fee würde über Nacht diese von ihnen gewünschte Kultur etablieren, was könnten Sie persönlich tun, um die Entwicklung ganz schnell wieder auf die alte Form zurückzudrehen?“ (und so ähnlich weiter)…

LEA: Was würden Sie ihm raten?

Fritz B. Simon: Da man Kultur nicht beschließen kann, würde ich meine und seine Aufmerksamkeit auf die Faktoren richten, die er bzw. man entscheiden kann:

(1) Routinen, die im Einzelnen festlegen, was zum Erreichen welcher Ziele zu tun ist, wie auf bestimmte Umweltbedingungen bzw. deren Veränderung (z.B. Umsatzeinbrüche) zu reagieren ist usw.; bestätigen sie die aktuelle Kultur oder stellen sie sie in Frage? Wie müssten sie sein, damit sie zu seiner Wunschkultur passen?
(2) Die Wahl des Personals (üblicherweise passen die Personen und ihre Eigenschaften zur Kultur des Unternehmens). Wenn er die Kultur beeinflussen will, dann darf er keine Leute einstellen, die zur alten Kultur passen, sondern muss „Störer“ einstellen, d.h. Menschen, die zu der Kultur passen, die er gern etablieren würde.
(3) Er muss Kommunikationsforen schaffen, in denen so kommuniziert wird, wie er das gern hätte, also z.B. Orte und Zeiten, wo Konflikte auf der Sachebene diskutiert und bearbeitet werden, ohne dass es zu persönlichen Abwertungen oder Konfliktvermeidung kommt.

LEA: Was sollten mit Gestaltungsaufgaben betraute Personen über Unternehmenskultur wissen, zum Beispiel Führungskräfte oder Organisationsberater, die Unternehmen in Themen wie Führung, Strukturen, Prozesse, interne Kommunikation oder Unternehmenskultur begleiten?

Fritz B. Simon: Dass die Kultur nicht direkt, sondern nur indirekt beeinflussbar ist und Führungskräfte sie durch ihr Verhalten, da sie von allen beobachtet werden, implizit immer entscheidend mitgestalten (ob sie wollen oder nicht).

Führungskräfte, die sich über eine lausige Unternehmenskultur beschweren, finden in der Regel nur die selbst versteckten Ostereier. Daher sollten sie sich immer fragen, inwiefern sie selbst sie zu der Entwicklung dieser Kultur beigetragen haben bzw. zu ihrer Aufrechterhaltung.

LEA: Welche weiteren Personengruppen sollten sich mit dem Thema Unternehmenskultur auskennen? Warum? Wofür?

Fritz B. Simon: Kultur wird implizit vermittelt, verändert und am Leben erhalten. Ich denke nicht, dass man das auf der Metaebene zum Thema für alle Mitarbeiter, die nicht Führungskräfte sind, machen muss.

LEA: Wo sollte man hinschauen, um herauszufinden, mit welcher Unternehmenskultur man es zu tun hat?

Fritz B. Simon: Auf für den Außenstehenden nicht nachvollziehbare (überschießende) Gefühlsäußerungen und -reaktionen auf Veränderungsideen oder -projekte. Da die Identität der Mitarbeiter durch die Kultur mit dem Unternehmen verbunden ist, wird auf – in der Regel nicht zu den sachlichen Aufgaben des Unternehmens gehörende – kulturelle Veränderungen allergisch reagiert. Sie werden als Bedrohung der persönlichen Identität erlebt und daher mit Wut, Ärger und ähnlichen, dem Unbeteiligten inadäquat erscheinenden, Reaktionen beantwortet.

LEA: Gibt es typische Unternehmenskulturen? Wenn ja, welche lassen sich unterscheiden?

Fritz B. Simon: Nein. Jede ist einzigartig. Allerdings gibt es branchenspezifische Unterschiede und Wahrscheinlichkeiten. In einer Versicherung ist die Kultur anders als in einer Werbeagentur, u.a. da dort jeweils ganz andere Leute arbeiten (müssen) und andere Kompetenzen gefordert sind.

LEA: Welche Unternehmenskultur wäre denn besonders nützlich, wenn Unternehmen lange am Markt bestehen möchten?

Fritz B. Simon: Keine Ahnung. Wahrscheinlich eine, die in der Lage wäre, sich selbst zu reflektieren und zu ändern. Aber das wäre genau das Gegenteil von dem, was Kulturen leisten: Beständigkeit, Berechenbarkeit und Heimat über die Zeit zu gewährleisten. Kulturen entwickeln sich evolutionär und daher nur langsam.

Schnelle, dem Markt folgende Veränderungen, erreicht man nicht durch gezielte Kulturveränderungsprojekte, aber umgekehrt, durch die Veränderung von Märkten werden in Unternehmen Veränderungen ausgelöst, die meist nicht-beabsichtigte kulturelle Nebenwirkungen haben, die leider nur selten nett sind. Es ist immer leichter, eine bestehende Kultur zu zerstören als eine neue, attraktive zu entwickeln.

LEA: Herr Prof. Simon, wir danken Ihnen für das interessante Gespräch.

 

(Das Interview führte Christina Grubendorfer, Geschäftsführung LEA GmbH im Februar 2016)