Unternehmenskultur revisited by Systemtheorie

LEA Geschäftsführerin Christina Grubendorfer gibt Einblicke in ihr Buch, welches das vieldiskutierte Phänomen der Unternehmenskultur aus systemtheoretischer Perspektive reflektiert und praktische Orientierung bietet.

 

LEA: Liebe Frau Grubendorfer, Sie haben sich nun mehrere Monate intensiv mit dem Phänomen Unternehmenskultur beschäftigt. Wieso ist es für Unternehmen überhaupt nützlich, sich mit ihrer Kultur zu befassen?

Christina Grubendorfer (CG): Unternehmen orientieren sich in ihren Entscheidungen unter anderem an der Unternehmenskultur. Und zwar meist ohne dies bewusst zu reflektieren. Im Unternehmensalltag entstehen Spielregeln, die zu befolgen sind, um dazuzugehören und dabei zu bleiben: Welche Themen dürfen in einem Meeting zur Sprache gebracht werden? Welches Vokabular darf verwendet werden? Wie muss man sich kleiden, wie muss man sein, um bei den Kollegen einen guten Stand zu haben? Was muss man tun, um sich bei Vorgesetzten ins rechte Licht zu rücken? In welche Fettnäpfchen kann man treten? Woran könnte man scheitern? Über diese Themen wird aber nicht offen miteinander gesprochen, sie wirken im Verborgenen. Die Unternehmenskultur prägt über unausgesprochene Spielregeln das Miteinander im Unternehmen. Dabei hat sie die Funktion Zugehörigkeit sichtbar zu machen bzw. das Unternehmen gegenüber seiner Umwelt abzugrenzen. Die Unternehmenskultur ist erfolgsrelevant für ein Unternehmen. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit den Themen Arbeitgeberattraktivität, Generation Y und „neuen“ Formen des Organisierens rückt sie aktuell auch stärker ins Blickfeld der Unternehmen.

LEA: Welchen Unterschied macht Ihr Buch zu anderen Publikationen, die sich mit Unternehmenskultur beschäftigen?

CG: Häufig lese ich, es sei wichtig und vor allem möglich, Unternehmenskultur zielgerichtet zu steuern und zu gestalten, um zum Beispiel die Innovationsfähigkeit des Unternehmens zu steigern oder schneller auf Veränderungen im Markt reagieren zu können. Da wird die Unternehmenskultur als „weicher Faktor“ des Unternehmenserfolgs gefeiert. Eine ganz zentrale Aussage meines Buchs dagegen lautet: Sie können nicht entscheiden, welche Unternehmenskultur Sie in Ihrem Unternehmen in Zukunft haben, Sie können sie nicht instruktiv verändern. Unternehmenskultur folgt den Strukturen des Unternehmens, sie ist wie ein Schatten der Vergangenheit. So hat jedes Unternehmen sozusagen die Unternehmenskultur, die es sich verdient hat. Unternehmenskultur ist ein Spiel, das sich selbst spielt. Hinter dem Rücken der Akteure. Unternehmenskultur entsteht dort, wo gerade nicht hingeschaut wird. Keiner entscheidet, welche Kultur entsteht. Und für bestehende kulturelle Regeln lässt sich auch nirgendwo eine vorangegangene Entscheidung finden. So wie niemand beschlossen hat, dass sich auf der Autobahn A1 der Verkehr staut und auch niemand alleine entscheiden kann, wann er sich wieder auflöst.

LEA: Welche Form der Beschäftigung mit Unternehmenskultur ist denn dann überhaupt sinnvoll?

CG: Zunächst geht es darum, Unternehmenskultur zu beobachten und die kulturellen Muster wahrzunehmen, dieses unausgesprochene Spiel mit seinen Regeln zu verstehen. Diese Spielregeln sind in jedem Unternehmen andere und die Menge aller Spielregeln, die in einem System wirken, sind dann die Unternehmenskultur. Es erfordert einige Übung, kulturelle Spielregeln zu erkennen und in Worte zu fassen. Es gibt unendlich viele verschiedene Spielregeln. Wer aber beginnen möchte, die Unternehmenskultur zu beobachten, kann versuchen, sie auf die folgenden Grundmuster hin zu „untersuchen“: Im Harmoniemuster ist es verpönt, Konflikte aufkommen zu lassen und offen anzusprechen. Sie werden unter den Teppich gekehrt und entfalten dort ihren lähmenden Einfluss. Dagegen werden im Splitting-Muster Gegensätze betont. Die Akteure nehmen gewohnheitsmäßig die Perspektive ein „Wir und die anderen“. Unterschiede, zum Beispiel zwischen Vertrieb und Marketing, werden so lange betont, bis sie immer schwerer zu überwinden sind. Im Chaosmuster wiederum sind die Akteure besonders versiert darin, Uneindeutigkeit herzustellen. Führungskräfte legen sich dabei nicht fest und senden unklare oder widersprüchliche Signale. In Meetings entstehen Ergebnisse, die in ihrer Uneindeutigkeit eine Quelle für Missverständnisse und neuen Diskussionsbedarf sind. Das Chaosmuster findet sich häufig dort, wo Ziele unklar sind, oder die Mitarbeiter Angst haben das Falsche zu tun. Diese oder viele andere Muster gilt es in Unternehmen zu entdecken.

LEA: Und was bringt es Unternehmen, wenn diese Muster erkannt sind? Sie sagen ja, dass sich die Unternehmenskultur nicht verändern lässt.

CG: Ich habe nicht gesagt, dass sich Unternehmenskultur nicht verändern lässt. Es lässt sich aber nicht entscheiden, welche Unternehmenskultur man genau hat. Sie können Unternehmenskultur nicht gezielt gestalten, doch Sie können Unternehmenskultur „über Bande“ anspielen. Es besteht die Chance, Kultur indirekt zu beeinflussen, indem Rahmenbedingungen im Unternehmen verändert werden. Dies können Veränderungen an den Programmen sein (Ziele, Strategien, Prozesse), an den Kommunikationswegen (hierzu gehören auch die Hierarchien) oder an Personen (Neueinstellung, Beförderung, Entlassung). Wenn ein Unternehmen zum Beispiel entscheidet, ein bestimmtes Bonussystem einzuführen oder abzuschaffen, mehr oder weniger in Projekten zu arbeiten wird das die Kultur auch in irgendeiner Weise mit verändern. Auch ob Herr Fitschen oder Herr Jain oder beide Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank sind, prägt die Kultur. Auch wenn plausible Hypothesen darüber möglich sind, wie eine Veränderung der Rahmenbedingungen auf die Kultur wirkt, mit Sicherheit vorhersagen oder kontrollieren lässt sich das nicht. Insofern ist das Anspielen von Unternehmenskultur über Bande immer ein gutes Stück Trial und Error. Eine Veränderung der Kultur sollte deshalb kein Selbstzweck sein. Sie sollte vielmehr einhergehen mit strategischen Veränderungen oder anderen Entscheidungen zur Unternehmensentwicklung. Dabei muss die Kultur aber dann auch auf jeden Fall berücksichtigt werden, denn die Kultur ist konservativ, sie will sich selbst bewahren. Um Veränderungen im Unternehmen durchzuführen, muss die Kultur mitgedacht werden, sonst schlägt sie zurück. Positiv gesagt ist die Kultur auch ein guter Spiegel, wie gut strategische oder strukturelle Veränderungen im Unternehmen durchgeführt wurden.

LEA: Inwiefern ist es denn überhaupt vorteilhaft, Unternehmenskultur aus der Perspektive der Systemtheorie zu betrachten? Welche Relevanz hat das für die Praxis in Unternehmen?

CG: Wer Interventionen in Organisationen plant sollte dafür einen theoretischen Rahmen haben. Alles andere ist wie Stochern im Nebel und deutlich gesagt auch unverantwortlich. Angenommen ein Manager oder ein externer Berater möchte in irgendeiner Weise auf eine Organisation einwirken, so dass diese sich in eine bestimmte Richtung verändert oder entwickelt. Woran kann er sich in der Wahl seiner Interventionen orientieren? Wie kann er Hypothesen darüber aufstellen, welche Art der Intervention welche Wirkung entfaltet? Bei der Beantwortung dieser Fragen bietet die neuere Systemtheorie nach Niklas Luhmann hilfreiche Antworten. Andere Disziplinen wie die Betriebswirtschaftslehre oder auch die Psychologie bieten Theorierahmen für Unternehmen, die den Besonderheiten sich selbst organisierender Sozialsysteme – was Unternehmen ja sind – bei weitem nicht gerecht werden. Die Betriebswirtschaftslehre tendiert noch immer dazu, Unternehmen wie Maschinen zu betrachten über deren Funktionieren man einfach per Management-Dekret entscheiden kann. Die Erfahrung in der Praxis zeigt sehr deutlich, dass das nicht so ist, und dass soziale Systeme ein Eigenleben haben, das zu komplex ist, um es entscheiden zu können. Die Arbeits- und Organisationspsychologie wiederum betrachtet Unternehmen als Ansammlung von Individuen und schaut vor allem auf die Psychen einzelner Personen, wenn es gilt, Veränderungen zu bewirken. So werden Personen typologisiert, einer Potenzialeinschätzung unterzogen, in ihrer Leistung beurteilt, in Trainings weiter entwickelt, individuell gecoacht oder auf andere Weise „bearbeitet“, in der Hoffnung, dass sich über die Summe der veränderten Individuen auch die Organisation insgesamt verändert. Eines der bekanntesten Modelle zur Unternehmenskultur von Edgar Schein basiert übrigens auch auf dieser Denkweise. Die Grenzen dieses rein personenorientierten Ansatzes sind zum Beispiel für viele Personalentwickler spürbar, die immer wieder feststellen müssen, dass die Effekte ihrer aufwändig konzipierten Trainings im operativen Alltag schnell wieder verpuffen.

Im Unterschied dazu schaut die Systemtheorie auf die Muster in Interaktionen zwischen mehreren Personen, die dafür sorgen, dass ein soziales System sich immer wieder selbst repliziert. Diese Muster können gut sichtbar sein, wie explizite Regeln zur Compliance oder schwer zu erkennen wie nämlich die Unternehmenskultur. Die systemtheoretische Perspektive geht davon aus, dass das System das Bestreben hat, sich selbst zu erhalten – und zwar im bewährten Status quo. Interventionen, die zu Veränderungen führen, sind so nur als Irritationen, Störungen im Ablauf des Systems denkbar. Wie das soziale System auf diese Irritationen reagiert, ist nicht planbar. Deswegen wird ein systemtheoretisch versierter Agent der Veränderung seine Interventionsstrategie im Wechselspiel mit der Resonanz des Systems situativ weiterentwickeln. Eine systemtheoretische Perspektive auf Unternehmen bietet die einzig erfolgversprechende Herangehensweise an ein so komplexes Thema wie die Unternehmenskultur.

 

Das Gespräch führte Holger Schmitz am 2. Juni 2015.