Wieviel Hierarchie ist nötig? – „New Work“ gruppendynamisch betrachtet

Dass selbststeuernde Teams im Kontext der agilen Welt immer mehr an Bedeutung gewinnen dürfte jedem aufgefallen sein, der in einer Organisation arbeitet, die sich mit Themen wie Hierarchie und New Work auseinandersetzt. Konzepte wie Scrum, Holacracy© und Design Thinking setzen sich immer mehr durch und versprechen eine hierarchiefreie Form des Arbeitens. Doch was passiert mit der Hierarchie, wenn sich diese vermeintlich hierarchiefreien Arbeitsweisen durchsetzen? Wer entscheidet dann noch? Und wer ist verantwortlich? Vor allem wenn etwas schief geht? Diesen und weiteren Fragen widmete sich die Tagung: „New Work und Gruppendynamik – zwischen Fremdheit und Komplementarität“ von Simon, Weber & Friends (SWF) am 22.3.2019 in Berlin, bei der wir als LEA-Team natürlich nicht fehlen durften.

Torsten Groth, Seminarleiter bei SWF, warf zunächst einen systemtheoretischen Blick auf beide Konzepte:

Organisationen sind bestrebt Komplexität zu reduzieren. Dafür produzieren sie Entscheidungen. Diese dienen als Rahmen und Basis für einen gelingenden Umgang mit der Umwelt, also zum Beispiel den Kunden oder Behörden. Um als Organisation eine Entscheidung produzieren zu können, müssen Meinungen gegeneinander abgewogen werden und in einem asymmetrischen (also unterschiedlich gewichteten) Verhältnis zueinander stabilisiert werden. Dieses Prinzip wird in vielen Organisationen noch als Hierarchie gelebt. Die nächsthöhere Ebene wägt die Argumente/Daten ab und entscheidet aufgrund dessen, was getan wird. Die Ansätze in „New Work“ bieten allerdings vermehrt Alternativen zu einem hierarchischen Entscheidungsprozess. Statt einer hierarchischen Entscheidung, wird auf ein Projektteam eingesetzt oder ein entscheidungsgenerierender Prozess implementiert.

Alles nach dem Paradigma: Einer komplexen Umwelt begegnet man besser mit einem komplexen Sozialsystem, wie zum Beispiel einem Tam oder einer Gruppe[1]. Dafür muss ein Team allerdings drei sich gegenseitig bedingende Eigenschaften entwickeln: Intelligenz – Reflexion – Spielfähigkeit.
In anderen Worten, das Team muss mit seinem „Nichtwissen“ umgehen, sich selbst als ein Außen wahrnehmen können und sich bewusstwerden wie es zu seinen Entscheidungen gekommen ist. Bis Teams das leisten können, brauchen sie zunächst einmal Zeit, um sich als Team zu finden. Weiterhin ist dieser Prozess nie abgeschlossen, da Teams diesen Status immer wieder neu stabilisieren müssen. Da fragt man sich: Haben Organisationen diese Zeit für Teams?

Inwiefern die Gruppendynamik dazu beitragen kann, Teams zu helfen zu dieser Selbststeuerung zu kommen sollte uns im nachfolgenden Vortrag Dr. Karl Schattenhofer als Vertreter der gruppendynamischen Perspektive erklären.

Innerhalb der Gruppendynamik wird Selbststeuerung als die Fähigkeit der Gruppe gesehen auf ihre eigenen Gruppenregeln Einfluss nehmen zu können und diese weitestgehend selbst setzen zu können. In letzter Instanz wird natürlich keine Gruppe komplett autonom werden, aber es gibt durchaus unterschiedliche Freiheitsgrade von Gruppen. Die Fähigkeit sich einige Regeln selbst setzen zu können ist eine kommunikative Gruppenleistung. Den das Besprechen von Regeln verläuft zumeist nicht konfliktfrei und bedarf entsprechender sozialer Fähigkeiten der einzelnen Gruppenmitglieder.

Entsprechend sind Individuen auf verschiedenen Ebenen gefordert. Sie müssen sowohl sich selbst als auch das Geschehen der Gruppe reflektieren können. Diese Fähigkeiten kann man in einer gruppendynamischen Trainingsgruppe[2], wie sie von den Vertretern der Gruppendynamik praktiziert wird lernen. In einer solchen Gruppe kann man schauen: „Wie machen wir (die Gruppe) etwas und wie wirkt es?“, „Welche Ordnung entsteht, wenn man eigentlich keine Ordnung intendiert hatte?“ und „Inwiefern weicht mein Erleben, von der geteilten Realität der Gruppe ab?“.

Der Trainer übernimmt in diesem Kontext eine sogenannte paradoxe Leitung, die an die Führungsrolle vieler New Work Ansätze erinnert. Er setzt den Rahmen der Gruppe, übernimmt aber keine direkte Führung über das Geschehen oder den Inhalt der Gruppe. Dadurch das den Führungserwartungen der Teilnehmer nicht entsprochen wird, entsteht ein Führungsvakuum, dass zunächst einmal verunsichert. Im Verlauf erlebt die Gruppe allerdings dadurch die Möglichkeit ihre Eigendynamik zu erleben und zu reflektieren. Dieser Schritt hin zur Reflektion benötigt dabei vor allem Zeit und lässt sich auch nicht künstlich beschleunigen. Ein ähnliches Führungsvakuum entsteht vielfach auch in Organisationen, die aus der klassischen Linie kommen und nun New Work Ansätze umsetzen sollen. Im Team ist noch nicht klar, wer welche Rolle übernehmen wird, wer Verantwortung trägt. Vor allem aber ist die Sicherheit und Struktur bietende Führungskraft nicht mehr abrufbar. Das Team ist auf sich und seine neuen Prozesse, je nach Implementierung der Methode allein gestellt. Dass das nicht ohne Konflikte läuft weiß jeder, der schon einmal mit New Work Praktiken gearbeitet hat.

Hieraus ergab sich auch die Überleitung zum zweiten Vertreter der gruppendynamischen Praxis: Der Vortrag von Prof. Dr. Ewald Krainz über das Thema: „Projektmanagement“.
Dabei geht es nicht mehr nur einzig um die Gruppe, sondern um die Paradoxien und Konflikte, die sich aus den unterschiedlichen Logiken des Zusammentreffens von Gruppe und Organisation ergeben. Da Organisationen zumeist den Rahmen einer direkten Kommunikation aller Beteiligter übersteigen, benötigen sie eine Form der Ordnung, die es ihnen ermöglicht Interessen zu bündeln und auf neuen Ebenen zu verhandeln. Dafür werden in der Regel aus unterschiedlichen Gruppen Vertreter geschickt, die neu verhandeln müssen. So entstehen neue Gruppen aus Vertretern, mit wieder unterschiedlichen Interessen.

Für die Vertreter entsteht ein Loyalitätskonflikt: Damit die neue Gruppe arbeitsfähig wird muss der Vertreter, wie auch in jeder anderen Gruppe, bereit sein zu einem gewissen Grad von seiner Agenda abzuweichen und auch die anderen Gruppenmitglieder mit ihren Interessen berücksichtigen. Er wird damit zu einem Doppelagenten der plötzlich die Interessen zweier Gruppen vertreten muss und befindet sich in der Ambivalenz nicht beiden Gruppen zugleich gerecht werden zu können.

Projektteams in Organisationen sind dabei ein Paradebeispiel. Dabei gibt es einen Auftraggeber mit einem Anliegen, dass von der Organisation bearbeitet werden soll und der einen Projektleiter bestimmt. Dieser sucht sich (mehr oder weniger frei) aus den Abteilungen seine Teammitglieder zusammen. Sowohl er als auch die Mitglieder seines Teams befinden sich nun in der oben beschriebenen Mehrfachzugehörigkeit. Der Projektleiter ist zum einen dem Auftraggeber und zum anderen seinem Projektteam verpflichtet und die Teammitglieder müssen sowohl Teil des Projektteams als auch in ihrer alten Abteilung. Ob und wie diese unterschiedlichen Anforderungen bewältigt werden unterliegt neuen Dynamiken und wird nicht mehr durch eine Hierarchie vorgegeben und vermittelt. Dabei kann es zu allen Arten von Konflikten, Verantwortungsdiffusionen und Boykottierungen kommen. Verstärkt wird dies nur noch je unklarer die Rahmenbedingungen sind. Entsteht im Folgenden Chaos wünschen sich Teams zumeist die Führung zurück, die eine Entscheidung trifft oder einen neuen Rahmen setzt.
Eine Hierarchie kann hier Struktur gebend sein, da sie von einer höheren Ebene aus entscheidet. Sobald die Führung zugleich auch auf einer Ebene mit dem Team ist, benötigt das Team selbststeuernde Kompetenzen.

Julia Culen setzte in diesem Kontext einen erfrischenden Impuls. Für sie stellen die meisten der New Work Methoden eine Vermeidung der Frage: „Was will die Organisation tun und warum?“ dar.
Die Methoden funktionieren dabei Algorithmus ähnlich, indem sie Rollen und Prozesse vorgeben, Stati abfragen und somit eine neue feste Struktur vorgeben. Die einzelnen Rollen sollen dabei von den Mitgliedern der Organisation so energetisiert werden, dass sie den Sinn für die Organisation selbst stiften. Was häufig vergessen wird, ist das auch New Work Methoden eine Hierarchie, die sie einführt und aufrechterhält brauchen.

Abgeleitet aus dem Holokratischen© Prinzip hat Julia Culen einen Ansatz der Organisationsstruktur entwickelt und praktiziert, bei dem die Sinnfrage zunächst im Kern bearbeitet wird und sich danach erst auf den Rest der Organisation ausbreitet. Dies erfolgt in Außenkreisen, die die unterschiedlichen organisationsrelevanten Aufgaben übernehmen. Dabei gibt es sowohl Hierarchie als auch selbstgesteuertes Arbeiten. Die Macht bleibt aber zunehmend im Hintergrund, da alle Mitglieder der Organisation um den Sinn derselben wissen und sich danach ausrichten können. Natürlich ist diese hier eher spärlich beschriebene Struktur auch kein Patentrezept für den Erfolg heutiger Organisationen, aber es macht Mut und Lust Organisationen weiter zu entwickeln.

Nach der Tagung wurde einmal mehr deutlich, dass es keine Patentlösung für Organisationen und ihre Teams gibt, wie sie sich in der heutigen Arbeitswelt strukturieren sollen. Dafür aber immer neue Paradoxien, die in Organisationen bearbeitet und entfaltet werden müssen. Die Synthese zwischen Gruppendynamik und New Work gelang leider nur zu geringen Teilen innerhalb der Vorträge, aber nichtsdestotrotz wurde deutlich, dass sich beide Ansätze viele der Herausforderungen teilen. So setzen sie sich mit der Selbststeuerung von Gruppen/Teams auseinander, haben einen Ansatz wie Führung neu gedacht werden kann und versuchen neue Zugänge für modernen Herausforderungen der Arbeitswelt zu generieren. Die gruppendynamische Trainingsgruppe bietet dabei eine Möglichkeit viel über sich selbst und seine Rollen in Gruppen und Teams zu lernen und somit auch seinen Organisationsalltag vielschichtiger wahrnehmen und beeinflussen zu können.

 

[1] die beiden Begriffe Team und Gruppe werden im Folgenden synonym verwendet

[2] bei der gruppendynamischen Trainingsgruppe handelt es sich um das Format indem die Gruppendynamik praktisch wird. Es sitzen 8 – 12 Teilnehmer, ein Trainer für 5 Tage zusammen und haben den gemeinsamen Auftrag eine Gruppe zu werden.          
Für mehr Informationen zum Setting der gruppendynamischen Trainingsgruppe: https://become-better.org/haben-sie-schon-mal-von-einer-gruppendynamischen-trainingsgruppe-gehoert/