Selbstorganisation ist ein schönes Problem und eine schlimme Lösung.

Selbstorganisation in Organisationen fängt da an, wo es niemand merkt.

Das scheint erst mal eine fragwürdige Aussage, bedenkt man, wie viel aktuell dafür getan wird, diese Kompetenz in Organisationen – oder konkreter – von einzelnen Mitarbeitenden zu fördern: weniger Hierarchie, mehr Verantwortung, agile Teams, Trainings, Mindset-Workshops …
Das Problem: häufig fließen die Ressourcen in das Thema „Selbstorganisation“, ohne sich vorab ein klares Bild gemacht zu haben, was Selbstorganisation ist. Und so versickern diese Ressourcen dann auch mal ganz schnell, weil das Verständnis für Probleme, Lösungen und auch einfach für verschiedene Erwartungshaltungen nicht aufkommen kann.

Deshalb gehen wir mal auf Anfang mit einer Definition. Autor, Dozent und Coach Olaf Geramanis beschrieb es im LEA-Podcast „Wie ist Selbstorganisation in Organisationen zu verstehen?“ mal so: Selbstorganisation ist die Anpassungsfähigkeit an Strukturen aufgrund von Mechanismen, die einem System, wie zum Beispiel einem Mitarbeitenden, innewohnen. Selbstorganisation von außen steuern? Erst mal also Fehlanzeige. Auf die inneren, intrinsischen Prozesse kommt es an.

Untermauert wird das von Beispielen aus dem Tierreich: Vogelschwärme brauchen kein Strategiemeeting, um zusammen in die richtige Richtung zu fliegen oder ein Wolfsrudel kein von oben angeordnetes Training, um gemeinsam zu jagen. Sich selbst zu organisieren und so miteinander zu kooperieren, bringt sehr wahrscheinlich seit Jahrtausenden einen evolutionären Vorteil und ist deshalb genetisch in Lebewesen angelegt. Für uns Menschen finden wir den Beweis dafür schon bei Kindern, die sich neue Spielregeln ausdenken und ganz neue Welten um sich herum organisieren können.

Deshalb auch die Aussage: „Selbstorganisationen fängt da an, wo es niemand merkt.“. Heißt: wir denken bei Selbstorganisation häufig an bewusste Organisations-Prozesse und Strategien, die ganz konkret initiiert werden müssen. Die natürlich ablaufende Selbstorganisation von Innen kommt uns wenig in den Sinn. Würde aber nicht sowieso schon viel Selbstorganisations-Potenzial ausgeschöpft werden, könnten Organisationen gar nicht funktionieren. Es wäre schließlich unmöglich, jede Kooperation zu formalisieren.

Da so ein großer Teil der Selbstorganisation im Verborgenen bleibt, schleichen sich auch häufig unbemerkt dysfunktionale Muster ein: Kollegen gehen in die Überlast, um andere zu unterstützen; bestimmte Aufgaben werden im stummen Einverständnis miteinander weg-ignoriert; Absprachen finden im Dialog zwischen zwei eng zusammenarbeitenden Mitarbeitenden statt und kommen nie im gesamten Team an, und und und.

All das sind Probleme der Selbstorganisation, die entstehen, weil wir gar nicht anders können als uns selbst zu organisieren. Und genau auf der Basis solcher „schöner“ Probleme kann dann Mehrwert entstehen, zum Beispiel, wenn man in die Selbstreflektion geht oder in einem Coaching daran arbeitet, diese Prozesse bewusst zu machen und daraufhin Veränderungen zu initiieren. Hier kommen wir dann im Terrain „Selbstorganisation als Lösung“ an, welches allerdings seine ganz eigenen Tücken mitbringt.

Tücke Nummer 1: Unbewusste und bewusste Selbstorganisation sind zwei unterschiedliche Prozesse. Wenn wir versuchen bewusste Selbstorganisation zu fördern, heißt das also nicht, dass die unbewussten, dysfunktionalen Muster damit automatisch aufgelöst werden. Ganz besonders nicht, wenn sie nicht vorab reflektiert und in die Lösungsfindung miteinbezogen wurden. Zudem kommt: Selbstorganisation als innerer Prozess funktioniert automatisch und kostet deshalb wenig Energie für Mitarbeitende. Sobald sie ihre üblichen Muster überdenken und gegebenenfalls in sie eingreifen müssen, kann das aber erst mal sehr fordernd sein – auch wenn der Selbstorganisations-Prozess von außen ähnlich erscheinen mag.

Tücke Nummer 2: Die Erwartungshaltungen von Organisation und Person stimmen häufig nicht überein. Wenn Organisationen Selbstorganisation fördern, dann wollen sie das meist, um in der VUCA-Welt bestehen zu können. Formalisierte Regeln und Rahmenbedingungen sind zu langsam aufbaubar, um auf die ständig wechselnden Unsicherheiten der heutigen Zeit zu reagieren. Einzelne Personen schaffen das gut und es ist auch nicht verwerflich, sich auf die Ressource der Mitarbeitenden stützen zu wollen, um wirtschaftlich zu bleiben.

Zu einer schlimmen Lösung wird es aber dann, wenn nicht beachtet wird, was Personen brauchen, um gesund und zufrieden in einer Organisation zu bleiben. Nicht jedem liegt es, durch mehr formalisierte Selbstorganisation auch mehr Verantwortung für die Ergebnisse einer Organisation tragen zu müssen. Und häufig wird auch gar nicht direkt deutlich, dass Change-Prozesse zu mehr Selbstorganisation nicht etwa initiiert werden, um mehr persönliche Entfaltung oder Menschlichkeit zu fördern – sondern (auch) wirtschaftliche Gründe dahinterstecken. Und selbst, wenn es offen kommuniziert wird – wird dann auch genug dafür getan, Mitarbeitende beim Change mitzunehmen? Wird genug geboten, sodass auch ein Vorteil für sie aus der bewussten Selbstorganisation entstehen kann? Oder wird nur gefordert?

Wenn das Fazit nicht ganz positiv ausfällt, gibt es viele Methoden, mit denen man einhaken könnte, beispielsweise Gruppendynamische Trainings, Transparenz in den Erwartungshaltungen und das Schaffen vom informellen Räumen. Und wer mehr über diese Themen wissen möchte oder sich einfach mal Zeit zum Selbstreflektieren der eigenen Selbstorganisation nimmt – dem legen wir den Podcast mit Olaf Geramanis ans Herz.