Konstruier dir die Unternehmens-Welt, wie sie dir gefällt

Stell Dir vor, Du kannst die Realität gar nicht ganz erfassen. Was etwas nach Sci-Fi-Drama klingt, ist eigentlich unser tägliches Brot: Wir konstruieren uns in jeder Sekunde ein Abbild von der Welt, das mit einigen Abstrichen leben muss. Und obwohl das bei vielen Menschen erst mal ein unbehagliches Gefühl auslöst, birgt genau dieses Prinzip des Konstruktivismus eine riesige Chance für Führung und Organisationsentwicklung.

Die Idee des Konstruktivismus ist vergleichbar mit dem Handwerk der Kartographie. Ein Abbild der Welt im Maßstab 1:1 anzufertigen, ist ein Ding der Unmöglichkeit – die Ressourcen für Erde Nr. 2 fehlen schlicht. Ähnlich ist es bei den Ressourcen für die Realitätsauffassung. Die Welt um uns herum ist zu komplex, um jedes Detail, jede Beziehung und Abhängigkeit in derselben Sekunde zu erfassen. Davon abgesehen, wäre so eine komplette Realitätsabbildung auch nicht wirklich zielführend. Versuchen wir ein Mitarbeiterproblem zu lösen, nutzt es nicht, uns auf die vorbeiziehenden Wolken vor dem Fenster zu konzentrieren, dem Kaffeeschlürfen der Kollegin zu lauschen oder festzustellen, wie viele Stifte auf dem nahegelegenen Tisch liegen. Abstriche in unserer bewussten Wahrnehmung zu machen ist also erst mal nichts per se Schlechtes – warum fühlt es sich dann aber trotzdem schwer an, diesen Anspruch der komplett objektiv erfassten Realität loszulassen?

Organisationen haben Angst vor Nicht-Wissen oder auch Nicht-Erfassen. Es ist eine gewissermaßen beruhigende Vorstellung, dass es – könnten wir die Realität nur perfekt erfassen – immer die eine perfekte Lösung für jede Herausforderung gibt. Nicht-Wissen und Nicht-Verstehen sind unter diesem Mindset mit Schwäche assoziiert und meist wird die Konfrontation mit beiden so lieber vermeiden. Im schlimmsten Fall entstehen sogar Unternehmenskulturen, in denen Francis Bacons „Wissen ist Macht“ an der Tagesordnung steht – Wissen wird nicht als gemeinsam anzustrebendes Gut, sondern als Fundament für den eigenen Macht- oder eben Führungsanspruch verstanden. Das verschärft den Drang, Nicht-Wissen möglichst zu vermeiden.

Konstruktivismus wird dann zur Stärke, wenn wir anfangen, bewusst nach eigenen Wissens- und Erfassens-Lücken zu suchen und sie als Möglichkeit sehen, das Abbild der eigenen Realität zielführender (nicht perfekt) zu machen. Je nachdem, was das Ziel ist, sind andere Aspekte und Prämissen über die Realität von Vorteil. In etwa so, wie das Bewusstsein über die Stifte auf dem nahegelegenen Tisch doch nützlich werden würde, möchte man ein Dokument unterzeichnen. Deshalb ist es so wichtig, die Unvollständigkeit jeder Realitätsabbildungen zu akzeptieren, sie nicht als Schwäche zu verstehen und immer wieder für die aktuelle Problemstellung auf den Prüfstand zu stellen.

Ist das geschafft, lässt sich die Konstruktionen der Welt auch als Führungsinstrument verstehen. Wirklichkeitskonstruktionen unterscheiden sich ganz deutlich darin, wie hilfreich sie für Organisationen sind. Stockt beispielsweise die Zusammenarbeit in einem Team, beeinflussen Führungskräfte durch ihre Worte maßgeblich, wie dieses Stocken wahrgenommen wird: Aussagen wie „Früher lief das doch noch“ oder „Das ist ein riesiges Problem“ lenken den Fokus auf das, was nicht funktioniert und begrenzen im schlimmsten Fall, die Lösungsmöglichkeiten, die Mitarbeitende wahrnehmen. Im Gegensatz dazu erweitern systemische Fragen wie „Wie habt ihr es früher geschafft?“ oder „Wie würde es aussehen, wenn es nicht mehr stockt?“ die subjektive Realität auf Lösungsimpulse. Deshalb braucht es das Bewusstsein für die Konstruktion, in welche wir unsere Unternehmens-Welt stellen – sowohl für einen selbst als auch für die um uns herum.

Tiefere Einblicke in die große Welt des Konstruktivismus gibt es im Podcast 57 „Welchen Unterschied macht der Konstruktivismus für die Gestaltung von Organisationen“ mit Soziologe, Psychiater und Autor Fritz B. Simon. Hört gerne rein für Mehr über die Konstruktivistische Kartographie, die Bedeutung für eine Vielzahl an sozialen Phänomenen wie während der amerikanischen Präsidentschaftswahl und die Anfänge systemischer Organisationstheorien.