Digitale Souveränität

Warum Organisationen nicht digitalisiert werden können.

Die inflationäre Nutzung des Begriffs „Digitalisierung“ ist ein gutes Indiz dafür, dass das Thema in der Breite angekommen ist. Das Thema verdient diese Aufmerksamkeit durchaus. Allerdings ist es jetzt an der Zeit für eine angemessene Ausdifferenzierung der Thematik. Passender und zielführender ist es von „Digitaler Souveränität“ zu sprechen.

Die Simon Weber & Friends (SWF) Alumni-Veranstaltung unter dem Thema „Wie viel Analogie braucht die Digitalisierung?“ war ein weiterer Schritt in Richtung der Entthronisierung des Buzzwords „Digitalisierung“. Doch ging diese Frage noch nicht weit genug. Schon die Frage was die Digitalisierung braucht, setzt damit implizit die Notwendigkeit der Digitalisierung voraus.

IP-Telefonie ist keine Digitalisierung

Der Begriff „Digitalisierung“ – also, dass etwas das vorher analog war nun digital wird – war in Hinblick auf Organisationen von Anfang an fragwürdig. Ein gescanntes Blatt Papier, das dann als PDF vorliegt, ist durchaus digitalisiert. Doch, so meine These: Unternehmen lassen sich nicht digitalisieren. Organisationen sind Systeme, die sich durch Kommunikation konstituieren. Insofern wäre eine digitale Organisation eine solche, in der jegliche Kommunikation digital stattfindet. Dies wird bei den wenigsten Organisationen der Fall sein. Und selbst wenn lediglich über digitale Kanäle kommuniziert wird, ist längst nicht das erreicht, worauf „Digitalisierung“ abzielt. Nur weil die Telefone auf Voice-over-IP umgestellt werden, ist ein Unternehmen nicht „digitalisiert“.

Und doch ist Wikipedia auf eine Art ein digitalisierter Brockhaus. Dieses Beispiel zeigt, dass es bei der Digitalisierung nicht nur um den eigentlichen Prozess der Digitalisierung geht – denn der Brockhaus lag auch schon vor Wikipedia digital als CD vor. Vielmehr geht es darum, dass ganze Geschäftsmodelle von neuen Technologien geprägt sind. Auch die Revolution der Musik-Industrie hat nicht während der Digitalisierung stattgefunden, sondern danach. Musik wurde digital, als CDs die Schallplatten ablösten. Der Umbruch der Branche allerdings fand viel später statt, als die schon immer digitalen CDs zu digitalen MP3s und Audio-Streams wurden.

Wenn wir heute im Unternehmenskontext von Digitalisierung sprechen, meinen wir also in den seltensten Fällen das eigentliche Digitalwerden. Wir sprechen von Auswirkungen auf die Felder Technologie, Geschäftsmodelle und Zusammenarbeit, wie Lutz Ehrlich von EnBW zusammenfasste.

Muss jedes Unternehmen digitaler werden?

Häufig wird aber noch der Ruf laut, alle müssten digitaler werden und Unternehmen müssten sich digitalisieren. Aber ist das auch wirklich so? Muss jedes Unternehmen digitaler werden? Beim Frisörbesuch ist die Notwendigkeit der Digitalisierung fraglich – wenngleich ein Uber für Bäcker und Frisöre denkbar wäre.

Die eigentliche und viel spannendere Frage ist, wie entscheide ich, ob und vor allem wie viel Digitalisierung an welcher Stelle im Unternehmen sinnvoll ist? Die Antwort auf diese Frage setzt eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit allen Umweltfaktoren der Organisation voraus. Sie setzt außerdem eine große Offenheit voraus. Die Frage darf nicht von der Voraussetzung geprägt sein, dass am Ende möglichst viel digital sein sollte. Denn wie immer ist Technologie nur ein Werkzeug und digitale Faktoren nur eine relevante Umwelt.

Im Vordergrund sollten immer der Unternehmenszweck und die individuellen Ziele der Organisation stehen. Nur wenn die Organisation weiß, was sie erreichen will, kann sie souverän abwägen, welche Mittel für die Erreichung der Ziele notwendig sind. Diese Mittel können digital sein, aber ihre digitale Eigenschaft birgt keinen Wert an sich. Der Wert entsteht lediglich hinsichtlich ihrer Zielerreichung. Nebenbei bemerkt ist das mit der Agilität genau so.

Wir brauchen eine chancen-orientierte Digitale Souveränität

Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Club (CCC) nannte in diesem Zusammenhang auf der SWF-Veranstaltung den Begriff „Digitale Souveränität“. Ein Konzept, das die Hoheit des Einzelnen und von Staaten über ihre Daten beschreibt und das Politik und Verbraucherschützer schon seit längerem fordern.

Es ist höchste Zeit, dass dieser Begriff auch in Unternehmen Einzug hält. Und zwar nicht nur beschränkt auf Datensouveränität und Kontrolle über die digitale Infrastruktur. Bisher befasst sich der Begriff, der durch die Skandale um Edward Snowden ins Leben gerufen wurde, viel zu sehr mit den Gefahren von Technologie. Was wir benötigen ist eine chancen-orientierte Digitale Souveränität. Unternehmen stehen vor neuen Fragen. Was bedeuten die neuen technologischen Möglichkeiten für Ihre Produkte und Dienstleistungen? Noch wichtiger ist die Frage was bedeuteten diese Möglichkeiten für ihre Mitarbeiter und ihre Kommunikation.

Organisationen müssen sich in die Lage versetzen, die digitalen Einflussfaktoren zu bewerten und ihre Folgen abzuschätzen. Wenn sie dann Entscheidungen fällen, werden sie in der Lage sein die digitalen Faktoren zu berücksichtigen, ohne von ihnen bestimmt zu sein. Das ist Digitale Souveränität.

Sie ist insofern kein Gegenpol zur Digitalisierung, sondern die Balance zwischen Technologie-Euphorie und Digitalverweigerung. Sie setzt eine Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gegenüber der Digitalisierung voraus und eine unvoreingenommene Beobachtung. Sie ist weder von Technologie-Optimismus noch von Skepsis geleitet, sondern einzig vom Abgleich der Chancen und Risiken unabhängig von Digitalität in Bezug auf den Unternehmenszweck.

Und im Gegensatz zur Digitalisierung, die impliziert, dass sie irgendwann erreicht wurde, wenn alles digital ist, ist die Digitale Souveränität nie fertig. Sie muss wie jede Organisation an sich kontinuierlich durch geeignete Muster dynamisch gebildet . Leitfragen, um herauszufinden, ob eine Organisation digital souverän entwickelt, können u.a. sein: Welchen Nutzen versprechen wir uns von der Einführung digitaler Werkzeuge? Was würde passieren, wenn wir analog blieben? Welche Geschäfts-Chancen bieten neue digitale Technologien im Umfeld der Organisation? Welche digitalen Entwicklungen könnten das Geschäftsmodell beeinträchtigen und wie kann darauf reagiert werden? Und schließlich: Was sollte analog bleiben und warum?